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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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in ihm befand.
    Der alte Mann war neben der Tür stehengeblieben und schwieg. Seymour wandte sich langsam von ihm ab und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Die fehlende vierte Wand war wie der Vorhang einer Bühne, der sich gehoben hatte und Ausblick gestattete auf die dunkle Silhouette der Stadt, auf die Dächer mit den gewaltigen Firsten, auf die hohen Türme.
    Aus den drei Wänden des Raumes ragten Träger und breite Flächen, auf denen sich Holz stapelte, bereits fertiggestellte Bugspriete und solche, die erst noch bearbeitet werden mußten, und dieses irgendwie geordnet wirkende Durcheinander reichte bis zu den Deckenbalken empor. Von oben herab hingen Seilrollen und Wergriemen für die Kalfaterung.
    Seymour schritt auf die natürliche Bühne weiter vorn zu. Der steinerne Boden setzte sich auch nach dem Ende der beiden Seitenwände fort, wies eine leichte Neigung auf und verschwand schließlich im Wasser des Kanals, der dicht an dem Haus vorbeiführte. Kleine Wellen leckten am Rand der Steine entlang.
    Seymour sah eine dunkle Masse, die auf einer Art Rutsche lag, die sich durch den ganzen Raum über die geneigte Fläche erstreckte und draußen ins Wasser tauchte. Unmittelbar darauf bemerkte Pau, daß es sich um ein Objekt handelte, das sich unter einer Stoffplane verbarg, und aus irgendeinem Grund mußte er an einen Riesen denken, der sich in seinem Bett auf die Seite gedreht hatte und schlief. Er sah, wie sich die Oberfläche des Wassers vor ihm kräuselte, wie kleine Wellen über seine Schuhe glitten, aber er machte nicht kehrt. Noch einige weitere Schritte trat er vor. Das Wasser spülte ihm an den Fersen hoch und durchnäßte ihm die Socken, und Pau empfand das wie ein zärtliches Streicheln.
    Es war, als erwache er langsam aus einem Traum, als er sich umdrehte und auf den alten Mann zuschritt.
    »Gefällt es Ihnen?« fragte der, und während er lächelte, leuchtete es in seinen Augen. »Sie haben Glück. Bald wird das hier alles verschwunden sein. Man hat vor, den Kanal mit Erde aufzufüllen, und hinter der Kurve soll eine Plattform für die Helibus-Touristen des Euro-American-Express errichtet werden. Aber eigentlich wollte ich Ihnen etwas anderes zeigen.« Der alte Mann trat auf die Rutsche zu, griff nach einem Zipfel der Plane und zog das Tuch langsam von dem Gestell herunter. Dem überraschten Blick Seymours bot sich ein hölzernes Objekt mit klaren Linien dar, die sich nach und nach sanft wölbten und vorn und hinten mit zärtlicher Entschlossenheit aufeinander zustrebten. Vor dem dunklen Hintergrund zeichnete sich das helle Holz deutlich ab. Seymour strich mit den Fingerspitzen über die glatte und damastartig gemaserte Fläche.
    »Hier ist das Material, das Sie für Ihr Buch über die Nautik brauchen«, sagte der alte Mann. »Dieses Gebäude hier war einst ein Schiffsschuppen und diente dazu, Boote zu bauen, zu reparieren und vom Stapel zu lassen. Dies hier ist die letzte Gondel. Sie konnte nicht fertiggestellt werden, denn derjenige, der mit ihrem Bau beschäftigt war, wurde angerufen, und niemand außer ihm kennt die Geheimnisse dieses Handwerks. Als diese Stadt eine Seerepublik war und sich ihre Macht über das ganze Mittelmeer erstreckte – damals wurde sie deshalb ›La Dominante‹ [5] genannt –, gab es mehr als zehntausend dieser Barken. Jeder Teil einer Gondel hat eine ganz bestimmte Bedeutung und stellt in sich eine Synthese der Stadt dar.«
    Er hat recht, dachte Seymour, es ist in der Tat eine gewaltige Sache, so immens wie die Oberfläche eines Menhir oder der Knochen eines Sauriers. Etwas, das geschickte Künstlerhände formen, das dazu bestimmt ist, von ewigem Bestand zu sein – und seinen festen Platz inmitten aller Dinge der Erde einnimmt.
    An jenem Abend lud der alte Mann Paulus zu einem Gespräch bei sich zu Hause ein. Er führte ihn in einen vor Feuchtigkeit muffig riechenden Hausflur und die ausgetretenen Stufen einer sich steil in die Höhe schraubenden Treppe hoch. An jeder Wendung sah Seymour eine Tür mit einem weißen Schild, auf dem ein Name geschrieben stand.
    »Jetzt wohne nur noch ich hier«, erklärte der alte Mann. »Die anderen Zimmer stehen schon seit langem leer.«
    Sie stiegen weiter in die Höhe. Schließlich blieb der alte Mann vor einer der Türen stehen und drückte sie auf. Ein Schalter klickte, und eine Glühlampe verbreitete einen diffusen gelblichen Lichtschein.
    Auf der einen Seite des Zimmers stapelten sich einige Schränke aufeinander, und

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