Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
Vom Netzwerk:
Seymour sah in dem trüben Licht auch noch andere massige Formen, die sich unter Tüchern verbargen: In dem Raum herrschte ein einziges Durcheinander aus bedeckten Objekten, die in ihrer konturlosen Anonymität einen sonderbaren und fast bedrohlichen Eindruck erweckten.
    Der alte Mann führte Paulus zwischen den in halbdunkle Schatten gehüllten Mastodonten umher – bis ihm schließlich ein altes Telefon auffiel, das über keinen integrierten Videoschirm verfügte.
    »Hier gibt es Dinge von erheblichem antiquarischen Wert«, bemerkte Seymour. »Zum Beispiel das Telefon dort … Kann man es kaufen?«
    Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Aber das Telefon ist für die Anrufe notwendig.«
    »Anrufe?« Pau erinnerte sich daran, daß auch der letzte Gondelbauer angerufen worden war. »Wer könnte denn hier schon anrufen?«
    »Kommen Sie nur, kommen Sie!« sagte der alte Mann und führte Paulus durch eine Tür und in einen Korridor, in dem dreibogige Fenster einen Ausblick auf die Dächer der Stadt gestatteten. Seymour blieb unwillkürlich stehen, und während er stumm hinaussah, vernahm er einige weithin hallende Gongschläge. Als er sich fragend umwandte, erklärte der alte Mann: »Das ist eine der Uhren, deren Glockenläuten die Zeit angibt. Wir versuchen alles, um sie in Funktion zu halten, aber das wird immer schwieriger.«
    »Sagen Sie …«, murmelte Paulus, »… was sind Sie eigentlich von Beruf? Arbeiten Sie für eine Art Stiftung?«
    Der alte Mann lachte leise. »Nein, eine Stiftung gibt es nicht. Wir sind nur noch ungefähr zehn, und wir bemühen uns, das zu bewahren, was noch bewahrt werden kann. Aber dieser Aufgabe müßten sich jüngere Leute annehmen. Wie Sie zum Beispiel …«
    Sie durchwanderten ein Labyrinth aus Zimmern und Korridoren und weiteren steilen Treppen, bis sie schließlich an eine schmale Glastür gelangten. Der alte Mann öffnete sie, und Seymour trat in ein Zimmer, das völlig aus Kristall und Holz zu bestehen schien; in den Wänden und der Decke zeigten sich Dutzende von größeren und kleineren Fensterscheiben, und es sah aus, als wetteiferten sie miteinander um die Bildung eines Mosaiks. Paulus drehte sich langsam um die eigene Achse, und sein Blick glitt über das Meer aus Dächern hinweg, das in der Ferne mit der Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht verschmolz. Oben zeigten sich die ersten Sterne am Himmel.
    Die Einrichtung dieses Raums bestand nur aus einem Tisch und zwei Stühlen.
    »Setzen Sie sich«, forderte ihn der alte Mann auf, verschwand hinter einem Vorhang und kehrte kurz darauf mit zwei Tellern, Brot und einer großen Salami zurück. Er stellte alles auf den Tisch, trat erneut hinter den Vorhang und kam dann mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern wieder zum Vorschein.
    Seymour war vollkommen durcheinander. Er sah sich von Empfindungen heimgesucht, die aus einer fernen Vergangenheit stammten – einer Vergangenheit, die er nicht kannte, die ihm aber dennoch ein beunruhigendes Gefühl des Déjà-vu vermittelte.
    »Es ist nicht viel«, sagte der alte Mann. »Aber andererseits stammen diese Dinge aus eigener Herstellung. Sie werden an den Geschmack nicht gewöhnt sein; vielleicht mögen Sie ihn nicht.«
    Seymour war außerstande, darauf eine Antwort zu geben. Er fühlte sich wie in eine andere Dimension versetzt, und ihm schwindelte.
    Später rauchten die beiden Männer, und in der Schwärze des Himmels über ihnen funkelten Myriaden Sterne. Der alte Mann erzählte von sich und den anderen, die versuchten, jene Bereiche der Stadt zu erhalten, die das Schicksal immer kleiner werden ließ. Seymours Gastgeber hieß Umàn: Einer seiner Vorfahren hatte den Gondeln und Barken beim Anlegen ans Ufer geholfen – mit einer langen Stange, an deren einem Ende sich ein Haken befand –, und nach dem internationalen Standard lautete die entsprechende Berufsbezeichnung Hookman. Mit der Zeit war aus diesem Wort Umàn geworden.
    Seymour mußte daran denken, daß dieser Name dem alten Mann auch deshalb ganz angemessen war, weil er wie ›Human‹, also Mensch, klang.
    Während des Gesprächs entstand zwischen ihnen beiden eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens, und Paulus suchte nach Worten, um das auszudrücken, was in ihm vorging. Und so erzählte er von seiner Tätigkeit an Bord der Raumstation, in einer Welt also, die sich in ihrer ausschließlichen Fixierung auf Technik völlig von der unterschied, mit der er sich hier konfrontiert sah.
    Der alte Mann nickte

Weitere Kostenlose Bücher