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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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und Konturen miteinander verschwimmen ließ. Der Sommer neigte sich dem Ende entgegen, und das Licht hob die von der Zeit und dem Menschen verursachten Verheerungen weniger deutlich hervor. Erste dünne Nebelschwaden umhüllten die großen Palazzi und verbargen das Ausmaß, in dem die Mauern bereits verwittert waren.
    Während der Reise hatte sich Seymour über die Stadt informiert, und jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als den Beschreibungen Glauben zu schenken, die er zuvor für maßlos übertrieben gehalten hatte.
    Einige Möwen schwebten mit weißen und ausgebreiteten Schwingen über die Kanäle, tauchten ganz plötzlich ins Wasser, schossen unmittelbar darauf wieder daraus hervor und setzten den Flug fort. Ihr Krächzen hallte über die Dächer. Einer der Vögel kam in einem weiten Bogen auf das Kuppelfenster zu. Die Möwe stieß einen heiseren Schrei aus, schlug rasch mit den Flügeln, stieg auf und entfernte sich in einer eleganten Kurve, um sich kurz darauf zwischen den weißen Marmorwölbungen der Basilica della Salute zu verlieren.
    Es herrschte eine friedliche und gleichzeitig erregende Atmosphäre, die Seymour aus seinem Zimmer rief. Er spürte, daß die Stadt ihn zu sich einlud, daß eine überraschende und faszinierende Verlockung von ihr ausging.
    Und als er sich in dem Gewühl befand, das die zugänglichen Bereiche der Stadt heimsuchte und auf diese Weise einen unmittelbaren Eindruck vom standardisierten Massentourismus gewann, begann er sich irgendwie elend und verloren zu fühlen.
    Von unten aus betrachtet sah die Rialtobrücke aus wie ein kleiner Hügel, auf dem es von Menschen nur so wimmelte. Gegen seinen Willen mußte Seymour dem Schieben und Zerren der verschiedenen Gruppen nachgeben, die in dem Gedränge kaum auseinanderzuhalten waren. Die Brücke quoll regelrecht über, so voll war sie mit nacktem und vor Schweiß glänzendem Menschenfleisch, mit roter und sich abpellender Haut. Überall plapperten Stimmen, und Hunderte von Mündern verschlangen hastig geschmackloses Vollpension-und-alles-inklusive-Frühstück.
    Von dem Wasser des Canale Grande, über die sich die Brücke spannte, erklang das Platschen und Klatschen und Summen und Brummen der automatischen Gondeln, die sich über eine Länge von einem Kilometer bis fast in die Mitte des Kanals hin aneinanderreihten und auf Touristenfracht warteten.
    Hinter der Kurve ließ sich die große Stahlbarriere erahnen, die den Kanal in der Höhe der Ca’ d’Oro [4] abriegelte. Jenseits dieses Damms aus Metall stellte der Kanal eine gewaltige faulige und stinkende Wunde dar, die die Stadt bis hin zum alten Bahnhof verunstaltete. Dort befand sich eine zweite Barriere, eine noch größere als die erste, die sich fast mit einer Talsperre vergleichen ließ – und die schirmte die Fehler ab, die man nach der Katastrophe von Porto Marghera gemacht hatte.
    Auf einer großen Leuchttafel schimmerte eine Warnung, abwechselnd in den fünf Hauptsprachen, die neben der offiziellen Staatssprache der USAE zugelassen waren: GEFÄHRLICHE ZONE. RESTSUBSTANZEN AUS RADIOAKTIVER UND CHEMISCHER VERSEUCHUNG.

    Trotzdem war jener Bereich als der ›Durchgang‹ bekannt. Diese Bezeichnung gründete sich auf die Tatsache, daß man durch die weite Fläche, die einst eine Lagune gewesen war, die archäologischen Reste der petrochemischen und nuklearen Industrie von Porto Marghera erreichen konnte. Infolge der Maßnahmen, die ein weiteres Ausbreiten der von radioaktiver Strahlung und chemischer Vergiftung heimgesuchten Zone hatten verhindern sollen, war die betreffende Region zu einem Niemandsland geworden – dem bevorzugten Aufenthaltsort der Gescheiterten, die aus aller Welt hierher gekommen waren. Tatsächlich handelte es sich dabei um eine Hauptattraktion von Doge City – wenn auch die einzige, mit der keine Werbung gemacht wurde.
    Jeden Tag von morgens bis abends schwebten Hunderte von Helikiosken an den Uferbereichen entlang und verkauften angeblich aus der verseuchten Zone stammende Souvenirs. Einst hatte man auf diese Weise noch echte Raritäten erstehen können, zum Beispiel geschmolzene und dann zu bizarren Formationen erstarrte Metallfragmente, Splitter von menschlichen Knochen, manchmal sogar ganze Unterarm- oder Oberschenkelknochen. Doch wenn sich die Helikioske jetzt des morgens vom Himmel herabsenkten, waren sie gefüllt mit Reproduktionen aus Kunststoff, und neunzig Prozent der zum Verkauf angebotenen Stücke trugen die Aufschrift ›Made on

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