Die wahre Lehre - nach Mickymaus
nämlich folgendes ausgedacht.
Ich könnte Marys Körper über das Geländer werfen, bevor er erblüht. Das könnte ich tun. Dann könnte ich meinen Rücken behandeln. Vielleicht würde er sogar heilen, obwohl ich es bezweifle. Rae würde es nicht zulassen, das weiß ich jetzt schon. Und ich nehme es ihr nicht übel. Ich stehe auf ihrer Seite. Ich bin nur ein lebender Toter, aber das bin ich seit Jahren gewesen.
Ich könnte mir das Gewehr ans Kinn setzen und den Abzug mit der Zehe betätigen, oder ihn mit der Feder zurückschieben, mit der ich in dich schreibe, Tagebuch. Das wäre doch etwas. Mein Gehirn würde an die Decke fliegen, und ich würde dich mit meinem Blut bespritzen.
Aber, wie gesagt, ich habe das Gewehr nur geladen, um etwas zu tun. Ich würde es nie gegen Mary oder mich verwenden.
Ich brauche nämlich Mary, ich möchte, daß sie Rae und mich zum letzten Mal so umarmt, wie sie es im Park getan hat. Sie kann es. Es gibt einen Weg.
Ich habe alle Vorhänge zugezogen und für die Stellen, wo es keine gibt, Decken als Vorhänge verwendet. Die Sonne wird bald aufgehen, und ich will dieses Licht nicht hier drinnen haben. Ich schreibe bei einer Kerze, die den ganzen Raum in warmes Licht taucht. Ich hätte gern etwas Wein. Ich möchte, daß die Atmosphäre stimmt.
Mary beginnt auf ihrer Pritsche zu zucken. Ihr Hals ist an der Stelle geschwollen, an der sich die Ranken stauen, während sie sich zu ihrem Lieblingsfutter, dem Gehirn, drängen. Bald wird die Rose erblühen (ich hoffe, daß es eine gelbe ist; gelb war ihre Lieblingsfarbe und hat ihr gut gestanden), und Mary wird mich holen.
Wenn sie es tut, werde ich ihr den nackten Rücken zudrehen. Die Ranken werden herausschnellen und sich in meinem Fleisch verhaken, bevor Mary mich erreicht, aber das kann ich ertragen. Ich bin Schmerzen gewöhnt. Ich werde mir einreden, daß die Dornen Marys Nadeln sind. Ich werde stehenbleiben, bis sie ihre Arme um mich schlingt und ihr Körper sich an die Wunde preßt, die sie in meinen Rücken gemacht hat, die Wunde, die ihre Tochter Rae ist. Sie wird mich umschlingen, damit die Ranken und der Rüssel ans Werk gehen können. Und während sie mich hält, werde ich ihre schönen Hände erfassen und sie auf meine Brust drücken, und wir drei werden es wieder mit der Welt aufnehmen. Ich werde die Augen schließen und zum letzten Mal voll Entzücken ihre schönen, weichen Hände spüren.
Originaltitel: ›Tight Little Stitches in a Dead Man’s Back‹
Copyright © 1986 by Joe Lansdale
(erstmals erschienen in der Anthologie ›Nukes‹, hrsg. von J. Maclay & Ass., Baltimore)
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Agentur Luserke, Friolzheim
Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hilde Linnert
Illustriert von John Stewart
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James Patrick Kelly
Fluchtwege
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M orris Knox wischte den Boden der Toilette, als er vom nahen Aufzugsschacht das Knarren eiserner Stränge vernahm. Zunächst schenkte der alte Mann diesem Geräusch überhaupt keine Beachtung. In Gedanken weilte er längst nicht mehr im antiseptischen Waschraum.
Er zuckte jedoch zusammen, als er das leise Läuten aus dem Foyer hörte. Erschrocken warf er einen Blick auf die Uhr und eilte dann der Besucherin entgegen: Madeline, die Instandhaltungs-Aufseherin für diese Einheit. Sie lehnte an der Tür des Lifts, und während sie ihn beobachtete, zeigte sich jene Ungeduld in ihren Zügen, die Mütter zu langsamen Kindern entgegenbringen. Knox kannte diesen Ausdruck bereits und verabscheute ihn. Er war zweiunddreißig Jahre älter als Madeline Bianchi.
»Sie sind noch immer hier?«
»Ich bin fertig«, sagte er.
»Beeilen Sie sich, Knox! Sie beeinträchtigen das Arbeitsergebnis unserer Einheit.«
Er zuckte die Achseln.
»Ich übergebe Mildred die sechsundzwanzig«, meinte Madeline und hatte es offenbar satt. »Kommen Sie in mein Büro, wenn Sie hier fertig sind.« Sie betrat die Aufzugskabine, und hinter ihr schloß sich die Tür.
»Ich bin fertig«, versicherte Knox dem stummen Stahl. Er schüttelte den Kopf und kehrte in den Waschraum zurück.
Morris Knox war ein kleiner und drahtiger Mann, der gerade erst den Wettlauf mit der Zeit verloren hatte. Er bewegte sich noch immer mit einem Rest der alten und nervösen Energie, die ihn einst ausgezeichnet hatte, humpelte jedoch leicht aufgrund der Beinprothese, die nicht perfekt angepaßt worden war.
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