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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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wurden breit, und die Worte kamen im Chor: »Wo warst du, als sie die Große Bombe abwarfen?«
    Jedesmal, wenn ich mich drehte und wieder in den Spiegel blickte, war es eine neue Szene. Heftige, brennende Winde versengten die Welt. Babies verwandelten sich in Fleischsülze, Haufen von verkohlten Knochen, Gehirne kochten aus den Köpfen von Männern und Frauen, aus den Ohren, dem Mund und den Augen wie aus verstopften WCs, die übergehen, der Allmächtige, Glory Halleluja, unsere ist größer als eure, die Bomben fallen, der Spiegel wird weiß wie ein Pilz, dann wieder hell. Ich drehe mich. Rae drückt sich in meinen Rücken und schmilzt wie Butter auf einem Rost, löst sich in den Augenwunden auf meinem Rücken auf, und schließlich bin ich allein und breche unter der Last der Welt auf dem Boden zusammen. Mary wachte nie mehr auf.
    Die Ranken überlisteten mich.
    Eine einzelne Ranke fand irgendwo unten eine Spalte, wand sich die Treppe herauf und glitt unter der Tür hindurch, die in den Turm führt. Marys Pritsche lag in der Nähe der Tür, und während ich nachts schlief, mich später vor dem Spiegel drehte und dann auf dem Boden lag, kroch die Ranke zu Marys Pritsche, zwischen ihre Beine und drang mühelos in sie ein.
    Wahrscheinlich sollte ich anerkennen, daß der Ranke etwas gelungen ist, was ich seit Jahren nicht mehr geschafft habe, nämlich in Mary einzudringen, Tagebuch. O Gott, ist das komisch, Tagebuch, wirklich komisch. Ein weiterer kleiner Wissenschaftlerwitz. Wollen wir sagen, daß es ein verrückter Wissenschaftlerwitz ist? Denn nur ein Verrückter würde mit Menschenleben spielen, indem er ständig versucht, eine noch größere und bessere Todesmaschine zu erzeugen.
    Du fragst, was aus Rae geworden ist?
    Ich werde es dir sagen. Sie befindet sich in mir. Mein Rücken spürt die Last. Sie dreht sich in meinen Eingeweiden wie ein Korkenzieher. Ich habe vor einem Augenblick in den Spiegel geschaut; die Tätowierung sieht nicht mehr aus wie vorher. Die Augen haben sich in verkrustete Wunden verwandelt, und das Gesicht scheint mit Schorf bedeckt zu sein. Es ist, als hätten die Bitterkeit, die meine Seele ausmachte, die Gedankenlosigkeit, die Kurzsichtigkeit, das Schuldbewußtsein innerlich geschwärt und das Bild mit Pusteln, Knoten und Grind verunstaltet.
    Um es laienhaft auszudrücken, Tagebuch, mein Rücken ist infiziert. Infiziert mit dem, was ich bin. Ein blinder, vernunftloser Narr.
    Die Frau?
    Ach, die Frau. Mein Gott, wie habe ich diese Frau geliebt. Ich hatte sie seit Jahren nicht mehr richtig berührt, nur die wunderbaren Hände auf meinem Rücken gespürt, wenn sie die Nadeln in das Fleisch trieb, aber ich habe nie aufgehört, sie zu lieben. Es war keine Liebe mehr, die glühte, aber sie war immer noch vorhanden, obwohl ihre Liebe zu mir längst erloschen war.
    Als ich heute morgen vom Fußboden aufstand und Raes Gewicht und die Last der Welt auf meinen Schultern spürte, erblickte ich die Ranke, die unter der Tür hervorkam und sich nach mir streckte. Ich schrie ihren Namen. Sie rührte sich nicht. Ich lief zu ihr und sah, daß es zu spät war. Bevor ich nach ihr greifen konnte, kräuselte sich ihr Fleisch und bildete Höcker als wuselte eine Mäuseschar unter einer Bettdecke. Die Ranken waren am Werk.
    Ich konnte nichts für sie tun.
    Aus einem Stuhlbein und einer alten Decke fertigte ich eine Fackel an, setzte sie in Brand, verbrannte die Ranke zwischen ihren Beinen, sah zu, wie sie rauchend unter der Tür hinauskroch. Dann holte ich ein Brett, nagelte es unten an die Tür und hoffte, daß es die anderen wenigstens eine Zeitlang fernhalten wird. Ich habe eine der zwölfkalibrigen Flinten geholt und geladen. Sie liegt neben mir auf dem Schreibtisch, aber sogar ich weiß, daß ich sie nie benutzen werde. Ich wollte einfach etwas tun, wie Jacob sagte, als er den Wal tötete und aß. Etwas tun.
    Ich kann kaum noch schreiben, weil mein Rücken und meine Schultern so fürchterlich schmerzen. Raes Gewicht und die Last der Welt sind schuld daran.
    Ich bin gerade vom Spiegel zurückgekommen; von der Tätowierung ist kaum etwas übrig. Nur noch ein wenig blaue und schwarze Tinte, ein Hauch von Rot, der einmal Raes Haar war. Es sieht jetzt wie ein abstraktes Gemälde aus. Die Zeichnung ist zerstört, die Farben verrinnen. Der Rücken ist stark geschwollen. Ich sehe aus wie der Glöckner von Notre Dame.
    Was ich tun werde, Tagebuch?
    Wie immer bin ich froh, daß du diese Frage stellst. Ich habe mir

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