Die wahre Lehre - nach Mickymaus
ich höre dich, Tagebuch. Ich höre, was du sagst. Ich habe auch daran gedacht. Mein erster Eindruck war, daß ich jetzt endgültig den Verstand verloren hatte. Doch das stimmt nicht. Ich habe nämlich eine Kerze angezündet und sie über meine Schulter gehalten, und dank der Kerze und dem Mondlicht konnte ich noch deutlicher sehen. Es war tatsächlich Rae, nicht nur eine Tätowierung.
Ich schaute zu meiner Frau auf der Pritsche hinüber, die mir wie immer den Rücken zudrehte. Sie hatte sich nicht gerührt.
Ich wandte mich wieder dem Spiegelbild zu. Ich konnte meinen Körper kaum erkennen, sondern sah nur Raes Gesicht, das aus der Wolke lächelte.
»Rae«, flüsterte ich, »bist du es?«
»Aber, aber, Daddy«, sagte der Mund im Spiegel, »das ist eine dumme Frage. Natürlich bin ich es.«
»Aber … du bist … du bist …«
»Tot?«
»Ja … hat es … hat es sehr weh getan?«
Sie kicherte so laut, daß der Spiegel zitterte. Meine Nackenhaare sträubten sich. Ich war davon überzeugt, daß Mary aufwachen würde, aber sie schlief weiter.
»Der Tod trat augenblicklich ein, Daddy, und dennoch war es der schlimmste Schmerz, den man sich vorstellen kann. Ich werde dir zeigen, wie weh es getan hat.«
Die Kerze erlosch, und ich ließ sie fallen. Ich brauchte sie ohnehin nicht. Der Spiegel wurde hell, und Raes Lächeln reichte von einem Ohr zum anderen – buchstäblich –, das Fleisch auf ihren Knochen wirkte wie Kreppapier vor einem starken Ventilator, und dieser Ventilator blies die Haare von ihrem Kopf, die Haut von ihrem Schädel und schmolz die schönen, blauen Augen und die leuchtend weißen Zähne zu einer fauligen Masse, die die Farbe und Konsistenz von frischer Vogelscheiße hatte. Dann war nur noch der Schädel da; er brach auseinander und flog nach hinten in die dunkle Welt des Spiegels, und nun gab es kein Spiegelbild mehr, sondern nur noch die davonfliegenden Fragmente eines Lebens, das einmal gewesen und jetzt nur noch wirbelnder, kosmischer Staub war.
Ich schloß die Augen und sah weg.
»Daddy?«
Ich öffnete die Augen und blickte über die Schulter in den Spiegel. Rae war wieder da und lächelte aus meinem Rücken.
»Es tut mir so leid, mein Liebling«, sagte ich.
»Uns auch«, antwortete sie, und im Spiegel schwebten Gesichter an ihr vorbei. Teenager, Kinder, Männer und Frauen, Babies, kleine Embryos, die um ihren Kopf wirbelten wie Planeten um die Sonne. Ich schloß die Augen wieder, aber ich konnte sie nicht geschlossen lassen. Als ich sie neuerlich öffnete, waren die zahllosen Toten und all jene, die nie die Chance gehabt hatten zu leben, fort. Nur Rae war da.
»Komm nahe an den Spiegel heran, Daddy.«
Ich ging rückwärts zum Spiegel. Ich schob mich an ihn heran, bis die heißen Wunden, die Raes Augen waren, das kalte Glas berührten, und die Wunden heißer und heißer wurden. Und Rae rief: »Laß mich Huckepack reiten, Daddy.« Dann spürte ich ihr Gewicht auf meinem Rücken, nicht das Gewicht eines Teenagers oder das Gewicht eines sechsjährigen Mädchens, sondern eine schwere Last, als liege die Welt auf meinen Schultern und drücke mich zu Boden.
Ich sprang vom Spiegel weg und hüpfte jubelnd im Raum herum, genau wie damals im Park. Ich lief im Kreis und warf dabei immer wieder einen Blick in den Spiegel. Rae saß schlank und nackt rittlings auf mir, und ihr rotes Haar flog um ihren Kopf, wenn ich mich drehte. Als ich wieder am Spiegel vorbeikam, sah ich, daß sie sechs Jahre alt war. Eine weitere Runde, und ich erblickte ein Skelett mit rotem Haar, das eine Hand erhoben hatte, dessen Kiefer offen standen und das schrie: »Treib sie weiter, Cowboy!«
»Wie?« stieß ich hervor, während ich weiter sprang und bockte und Rae den schönsten Ritt ihres Lebens schenkte. Sie beugte sich zu meinem Ohr, und ich spürte ihren warmen Atem. »Du willst wissen, wieso ich hier bin, Daddy? Ich bin hier, weil du mich geschaffen hast. Einmal lagst du zwischen Mutters Beinen, und ihr beide habt mich mit all der Liebe, die in euch war, ins Leben gestoßen. Diesmal hast du mich mit deinem Schuldbewußtsein und mit Mutters Haß ins Leben gestoßen. Ihre bohrenden Nadeln, dein gewölbter Rücken. Und jetzt bin ich zu einem letzten Ritt zurückgekommen, Daddy. Reite, du Schwein, reite!«
Ich hatte mich die ganze Zeit gedreht, und als ich jetzt in den Spiegel blickte, sah ich von einer Wand zur anderen Gesichter, die auftauchten und verschwanden, wie lächelnde Sterne. Und alle diese Lächeln
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