Die Wahrheit des Alligators
sieben langen Jahre habe ich keinen Tropfen angerührt. Im Knast wurde unter der Hand ein Gift gebrannt, das die Alten den »Brandy Hotel Tausendstab« nannten. Aber heimlich zu trinken, war zu traurig.
Die Tussi mit dem geschäftigen Gehabe mußte gut informiert sein, wie man mich finden konnte, und sie machte auch den Eindruck von einer, die nicht so schnell lockerläßt. Sie hatte sich an den Barmann gewandt, um ihn zu fragen, wo ich saß, und während er ihr antwortete, hatte sie sich immer wieder auf die Zehenspitzen gestellt und den Hals gereckt, bis sie mich ausgemacht hatte.
»Marco Buratti?« fragte sie und streckte mir die Hand hin. »Mögen Sie Blues«, fragte ich zurück, ohne die Rechte vom Glas zu nehmen.
»Nein, und im übrigen bin ich aus beruflichen Gründen hier. Ich habe ein Problem, und ein Kollege, Rechtsanwalt Secchi, hat mir gesagt, Sie könnten mir helfen.«
»Einen Rechtsanwalt, der gute Musik zu schätzen weiß, muß ich erst noch finden. Ja, ich bin Marco Buratti«, und da sie ihre Hand nicht zurückgezogen hatte, stand ich auf und erwiderte den Händedruck. »Und ich bin Barbara Foscarini.«
Ich wies auf einen Tisch, der vom weißen und roten Neonlicht der Budweiser-Reklame erhellt war. Während sie sich setzte, nutzte ich die Gelegenheit, sie mir genauer anzusehen. Violette Schuhe mit Pfennigabsätzen, gelbes Kostüm, das ihre für die Jahreszeit – es war erst Ende Juni – überraschende Bräune hervorhob; ihr Verhalten war scheinbar ohne jene Arroganz, wie sie sonst für aufstrebende junge Anwälte typisch ist. Um die fünfundvierzig, rundlich, klein, gut gebaut und – ich hätte geschworen – geschieden.
»Ein Mandant von mir, Alberto Magagnin, der eine Haftstrafe von achtzehn Jahren verbüßt, aber derzeit Freigänger ist, ist seit gestern abend verschwunden. Morgens ist er regulär zur Arbeit angetreten, in der Kooperative Sole, die er zur gewohnten Zeit verlassen hat. Das Gesetz sieht vor, daß er bis spätestens zweiundzwanzig Uhr wieder im Gefängnis ist …«
»Sparen Sie sich diese Einzelheiten«, unterbrach ich sie, »ich war selbst Freigänger.«
»Entschuldigen Sie, Rechtsanwalt Secchi hatte es mir bereits gesagt. Genau deswegen habe ich beschlossen, mich an Sie zu wenden: Sie kennen das Milieu und könnten mir helfen, Alberto Magagnin wiederzufinden.«
»Warum?«
»Wie bitte?«
»Warum wollen Sie ihn wiederfinden? Wenn er beschlossen hat abzuhauen, ist das seine Sache. Außerdem sucht die Polizei ihn doch schon, oder?«
»Ich möchte ihn vor der Polizei finden, um ihn davon zu überzeugen, daß er sich stellt. Tut er das in den nächsten Tagen, bestehen gute Chancen, daß das Gericht sich als milde erweist und ihm gestattet, seine Haftstrafe als Freigänger zu beenden«, sie sah mich mit besorgter Miene an, »er hat nur noch ein knappes Jahr vor sich.«
»Und dann?« provozierte ich sie. »Ich kenne das Milieu, ein Anwalt hebt seinen Hintern nicht für so wenig. Erzählen Sie mir die ganze Story.«
»Ich werde versuchen, mich besser verständlich zu machen«, die Stimme der Frau wirkte jetzt leicht gereizt. »Ich kenne Alberto seit Jahren, genauer, seitdem er wegen Mordes an Evelina Mocellin Bianchini verhaftet wurde. Ich weiß nicht, ob Sie sich an den Fall erinnern, Januar 1976. Nach all den Jahren bin ich noch immer überzeugt, daß er zu Unrecht verurteilt wurde. Er hat Schreckliches durchgemacht. Ich möchte ihm ganz einfach helfen.«
Aber sicher, ich erinnerte mich gut an die Sache und an den Wirbel, den die Zeitungen darum gemacht hatten. Magagnin, ein Drogensüchtiger von der Piazza Signori, war zwecks Raub in eine Villa im Arcella-Viertel eingedrungen und hatte die Hausherrin, die ihn überrascht hatte, mit zahlreichen Messerstichen umgebracht. Die Nachricht hatte Aufsehen erregt, weil die Frau einer der Familien angehörte, die in Padua das Sagen haben. Die Carabinieri hatten ihn noch am selben Abend verhaftet, während er, die Kleider blutverschmiert, ziellos umherirrte. Er hatte erzählt, er hätte sie schon tot aufgefunden und sei geflohen, nachdem er sie angefaßt hatte, weil er ihr zu Hilfe kommen wollte. Natürlich hatte man ihm nicht einen Moment lang geglaubt, und vor dem Schwurgericht hatten ihn ein paar Gutachten endgültig festgenagelt. Auch ich hatte immer vermutet, daß er schuldig war, und seine Flucht war mir wirklich ziemlich gleichgültig. Aber das Verhalten der Foscarini hatte mir Eindruck gemacht. Eher merkwürdig für einen
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