Die Wahrheit des Alligators
Hände um den Rahmen geklammert.
»Buratti …«, sagte sie mit hauchdünner Stimme. »Hier bin ich, Frau Anwältin.«
»Diese Frau. wie sagten Sie noch, daß sie hieß? Ich kenne sie. Aber ja, sie war eine der Geschworenen in dem Schwurgericht, das Alberto verurteilte!«
Diese Neuigkeit verschlug mir die Sprache. Ich hielt einen Moment lang inne, um meine Gedanken zu ordnen.
»Wie Sie sehen, haben wir jetzt auch das Motiv: Rache. Was wollen Sie jetzt machen?«
»Wurde das Verbrechen schon entdeckt?«
»Ich glaube nicht. Warum?«
»Wir müssen Alberto finden. Auf der Stelle, bevor ihn die Polizei findet.«
»Vielleicht weiß ich, wo ich ihn auftreiben kann, besser gesagt, ich glaube zu wissen, wer ihn versteckt hat. Aber das Verbrechen muß sofort angezeigt werden, der Leichnam ist schon verwest.«
»Nein, ich bitte Sie. Wir brauchen Zeit …«
»Frau Rechtsanwältin, Sie verlieren ja den Kopf, vergessen Sie nicht, was Sie von Beruf sind. Beruhigen Sie sich und denken Sie nach. Wenn es stimmt, was Sie gesagt haben, nämlich daß Magagnin unschuldig ist, dann wird es für die Polizei um so schwerer sein, Elemente oder Spuren zu seinen Gunsten zu entdecken, je mehr Zeit vergeht. Das Wichtigste ist jetzt, Ihren Mandanten zu suchen, und wenn ich ihn finde, wie ich glaube, ein Treffen mit Ihnen zu arrangieren. In Ordnung?«
»Ja sicher. Aber entschuldigen Sie, aber.«
Ich unterbrach sie: »Gehen Sie jetzt nach Hause«, und nach einem Moment des Zögerns, »ich muß einen anonymen Anruf machen.«
Während sie sich entfernte, dachte ich, daß ich etwas zu hart gewesen war. Das war ihr nahe gegangen, zu nahe für einen Anwalt.
Um vier Uhr früh kam ich nach Hause. Ich war nicht müde, also fing ich an, darüber nachzudenken, was als nächstes zu tun war. Ich mußte Magagnin ausfindig machen. Mein Gefühl sagte mir, daß ich bei Bepi Baldan anklopfen mußte. Nach allem, was so über ihn geredet wurde, war er nicht nur Drogenhändler der Mittelklasse, sondern verfügte darüber hinaus über Mittel, um allen Flüchtigen, die mit ausreichend Geld zu ihm kamen, Unterschlupf zu bieten, immer unter der Bedingung freilich, daß es ihm nicht vorteilhafter erschien, sie an die Polizei zu verpfeifen. Er galt als knallharter Typ, wenig geneigt, etwas preiszugeben. Kurz, um ihn zum Reden zu bringen, würde es nötig sein, Muskeln zu zeigen. Damit war der Moment gekommen, Benjamino Rossini ins Spiel zu bringen, im Milieu auch bekannt als »der alte Rossini«, um ihn von seinen zahlreichen Brüdern zu unterscheiden. Trotz seines Alters – gute fünfzig, davon runde fünfzehn im Knast verbracht – hatte er sich einen schlanken und muskulösen Körper bewahrt, »à la Moser«, wie er sich selbst gerne definierte. Er war einer der letzten Repräsentanten der Mailänder Unterwelt, seine Spezialität waren Überfälle auf Geldtransporte. Aber er hatte von allem etwas gemacht. Angefangen hatte er, in bester Familientradition, als Schmuggler. Seine Mutter, eine französische Baskin, war in den Pyrenäen eine legendäre Schmugglerin gewesen, bis sie eines Tages einem spindeldürren Italiener begegnet war, der einen Führer brauchte, der ihn illegal nach Spanien schleusen konnte. Natürlich hatte ich ihn hinter Gittern kennengelernt, und wir waren sehr gute Freunde geworden, nachdem ich ihm aus einer eher heiklen Situation mit einer Gruppe von Camorristen herausgeholfen hatte.
Im Hochsicherheitsgefängnis auf der Insel Pianosa hatten drei Cutolianer seinen Zellennachbarn erdrosselt, einen Neapolitaner, der einer rivalisierenden Gruppe angehörte. Rossini war aus dem Schlaf hochgefahren und hatte die Szene ein paar Sekunden lang beobachtet, lang genug, um ihn zu einem unbequemen Zeugen zu machen. Dann hatte er den Kopf wieder aufs Kissen gelegt und so getan, als hätte er nichts bemerkt. So hatten die Wachbeamten ihn gefunden und in die berüchtigte Agrippa-Sektion geschleift, wo die Isolierzellen mit Blut verschmiert und verkleistert sind. Sie hatten ihn windelweich geschlagen, aber er hatte geschwiegen: Nicht seine Angelegenheit. Nach zwei Monaten Isolierhaft und Verhören kamen sie zum den Schluß, daß sie aus ihm nie etwas herausbringen würden, und verlegten ihn in die Strafanstalt nach Padua, wo ich ihn kennenlernte. Sein Gedächtnis mochte vielleicht für das Wachpersonal kein Problem mehr sein, aber für die Cutolianer war das noch lange nicht so – sie betrachteten ihn nach wie vor als Risikofaktor.
Nachdem der Versuch,
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