Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Ratschläge gewissenhaft aufnehmen.«
»In Ordnung. Was für Ratschläge?«
»Was weiß ich …? Für Schriftsteller, Boxer und Menschen.«
»Für alle drei? Von mir aus. Wie viele wollen Sie?«
»Mindestens hundert!«
»Hundert? Ein paar sollte ich mir schon aufheben, damit ich Ihnen später noch etwas beibringen kann.«
»Sie werden mir immer etwas beibringen können. Sie sind der große Harry Quebert.«
»Ich werde Ihnen einunddreißig Ratschläge geben, und zwar im Lauf der nächsten Jahre. Nicht alle auf einmal.«
»Warum gerade einunddreißig?«
»Weil einunddreißig ein wichtiges Alter ist. Das erste Jahrzehnt formt Sie als Kind. Das zweite als Erwachsener. Und das dritte macht Sie zum Mann oder auch nicht. Mit einunddreißig sind Sie aus dem Gröbsten raus. Wie sehen Sie sich mit einunddreißig?«
»So wie Sie.«
»Na, na, reden Sie keinen Unsinn, nehmen Sie lieber auf. Ich werde in absteigender Reihenfolge vorgehen. Ratschlag Nummer 31 betrifft die Bücher. Hier kommt also die 31: Das erste Kapitel, Marcus, ist entscheidend. Gefällt es den Lesern nicht, werden sie Ihr Buch nicht weiterlesen. Was für ein Einstieg schwebt Ihnen vor?«
»Keine Ahnung, Harry. Glauben Sie, ich schaffe es irgendwann?«
»Was?«
»Ein Buch zu schreiben.«
»Da bin ich mir sicher.«
Er sah mich eindringlich an und lächelte. »Demnächst werden Sie einunddreißig, Marcus. Sie haben es geschafft: Sie sind ein fabelhafter Mensch geworden. Der Fabelhafte zu werden war nichts dagegen, aber ein fabelhafter Mensch zu werden ist die Krönung eines langen, großartigen Kampfes gegen sich selbst. Ich bin sehr stolz auf Sie.« Er zog seine Jacke an und band sich den Schal um.
»Wohin wollen Sie, Harry?«
»Ich muss jetzt gehen.«
»Gehen Sie nicht! Bleiben Sie!«
»Ich kann nicht …«
»Bleiben Sie, Harry! Nur noch ein bisschen!«
»Ich kann nicht.«
»Ich will Sie nicht verlieren!«
»Auf Wiedersehen, Marcus. Sie sind das Beste, was mir im Leben passiert ist.«
»Wohin gehen Sie?«
»Ich muss irgendwo auf Nola warten.« Er drückte mich noch einmal. »Finden Sie die Liebe, Marcus! Die Liebe gibt dem Leben einen Sinn. Wenn man liebt, ist man stärker, größer und bringt es weiter!«
»Harry! Verlassen Sie mich nicht!«
»Auf Wiedersehen, Marcus.«
Er ging und ließ die Tür hinter sich offen. Ich machte sie lange nicht zu, denn dies war das letzte Mal, dass ich meinen Lehrmeister und Freund Harry Quebert sah.
Mai 2002, Finale der Hochschulmeisterschaften im Boxen
»Sind Sie bereit, Marcus? In drei Minuten steigen Sie in den Ring.«
»Ich habe Schiss, Harry.«
»Das kann ich mir denken. Umso besser: Ohne Angst kann man nicht gewinnen. Und vergessen Sie nicht: Boxen Sie so, wie man ein Buch aufbaut … Erinnern Sie sich? Kapitel 1, Kapitel 2 und so weiter …«
»Ja. Eins: zuschlagen. Zwei: fertigmachen …«
»So ist es gut, Sie Champion. Bereit? Ha, wir sind im Finale, Marcus! Im Finale! Vor Kurzem haben Sie noch auf Säcke eingedroschen, und jetzt stehen Sie bei den Meisterschaften im Finale! Hören Sie die Ansage? ›Marcus Goldman und sein Coach Harry Quebert vom Burrows College.‹ Das sind wir! Auf geht’s!«
»Warten Sie, Harry!«
»Was ist?«
»Ich habe ein Geschenk für Sie.«
»Ein Geschenk? Sind Sie sich sicher, dass das der richtige Moment ist?«
»Absolut. Ich möchte, dass Sie es vor dem Kampf bekommen. Es ist in meiner Tasche, holen Sie es heraus. Es ist zu klein, ich komm mit den Handschuhen nicht dran.«
»Ist es eine Disc?«
»Ja, eine Zusammenstellung! Ihre einunddreißig wichtigsten Sätze. Über das Boxen, das Leben und die Bücher.«
»Danke, Marcus. Ich bin tief gerührt. Bereit für den Kampf?«
»Mehr denn je …«
»Na, dann los.«
»Halt, eine Frage habe ich noch …«
»Marcus! Es wird Zeit!«
»Aber es ist wichtig! Ich habe mir alle Aufnahmen noch einmal angehört, aber diese Frage haben Sie mir nie beantwortet.«
»Also gut, schießen Sie los. Ich höre.«
»Harry, wie weiß man, dass ein Buch fertig ist?«
»Bücher sind wie das Leben, Marcus. Sie sind nie wirklich zu Ende.«
NACHWORT
Oktober 2009
Ein Jahr nach Erscheinen des Buchs
»Ein gutes Buch lässt sich nicht allein an seinen letzten Worten bemessen, sondern an der Gesamtwirkung aller vorausgegangenen Worte, Marcus. Ungefähr eine halbe Sekunde nachdem der Leser mit Ihrem Buch fertig ist, nachdem er das letzte Wort gelesen hat, muss er spüren, wie ihn ein starkes Gefühl überkommt. Er muss
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