Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
ganzes Leben geführt! Sie wissen das, nicht wahr? Sie wissen es besser als jeder andere!«
»Ja, Harry. Aber warum haben Sie mir das nicht erzählt?«
»Ich wollte es! Ich hätte es getan, wenn Ihr Manuskript nicht an die Öffentlichkeit gelangt wäre. Damals dachte ich, Sie hätten mein Vertrauen missbraucht. Ich war wütend auf Sie. Ich wollte wohl sogar, dass Ihr Buch ein Misserfolg wurde. Nach der Sache mit Nolas Mutter würde niemand Sie mehr ernst nehmen. Ja, genau – ich wollte, dass Ihr zweites Buch ein Flop wurde – so wie meines, im Grunde.«
Wir schwiegen eine Weile.
»Das bedaure ich jetzt, Marcus. Ich bedaure alles. Sie müssen unendlich enttäuscht von mir sein …«
»Nein.«
»Ich weiß, dass Sie es sind. Sie haben mir so sehr vertraut. Aber ich hatte mein Leben auf einer Lüge aufgebaut!«
»Ich habe Sie immer für das bewundert, was Sie sind, Harry. Und mir ist es herzlich egal, ob Sie dieses Buch geschrieben haben oder nicht. Sie haben mir so viel über das Leben beigebracht. Das gilt auch weiterhin.«
»Nein, Marcus. Sie werden mich nie wieder so sehen wie früher, und das wissen Sie! Mein Leben ist ein einziger Schwindel! Ich bin ein Hochstapler! Deshalb habe ich zu Ihnen gesagt, dass wir keine Freunde mehr sein können. Es ist vorbei, Marcus. Sie sind im Begriff, ein fabelhafter Schriftsteller zu werden, aber ich bin nichts mehr. Sie sind ein wahrhaftiger Schriftsteller, ich bin es nie gewesen. Sie haben für Ihr Buch gekämpft, Sie haben darum gekämpft, Ihre Inspiration wiederzufinden, und Sie haben die Schwierigkeiten gemeistert! Als ich dagegen in derselben Lage wie Sie war, habe ich Verrat begangen.«
»Harry, ich …«
»So ist das Leben, Marcus, und Sie wissen, dass ich recht habe. Sie werden mir von jetzt an nicht mehr in die Augen blicken können. Und ich werde Sie nicht mehr ansehen können, ohne eine überwältigende, zerstörerische Eifersucht zu verspüren, weil Sie dort, wo ich versagt habe, erfolgreich waren.« Er drückte mich an sich.
»Harry«, murmelte ich. »Ich will Sie nicht verlieren.«
»Sie werden sehr gut allein zurechtkommen, Marcus. Sie sind ein verdammt anständiger Kerl und ein verdammt guter Autor geworden. Sie werden bestens klarkommen, das weiß ich! Jetzt trennen sich unsere Wege für immer. Das nennt man Schicksal. Mein Schicksal war es nie, ein großer Schriftsteller zu werden, aber ich habe versucht, das zu ändern: Ich habe ein Buch gestohlen und dreißig Jahre lang gelogen. Aber das Schicksal lässt sich nicht überlisten: Am Ende setzt es sich immer durch.«
»Harry …«
»Ihr Schicksal, Marcus, war es schon immer, Schriftsteller zu werden. Das habe ich von Anfang an gewusst. Und ich habe gewusst, dass der Augenblick, den wir jetzt erleben, eines Tages kommen würde.«
»Sie werden immer mein Freund bleiben, Harry.«
»Marcus, schreiben Sie Ihr Buch zu Ende. Schreiben Sie dieses Buch über mich zu Ende! Jetzt, wo Sie alles wissen, müssen Sie der ganzen Welt die Wahrheit erzählen. Die Wahrheit wird uns alle erlösen. Schreiben Sie die Wahrheit über den Fall Harry Quebert. Erlösen Sie mich von dem Übel, das mich seit dreißig Jahren quält. Das ist das Letzte, worum ich Sie bitte.«
»Aber wie? Ich kann die Vergangenheit nicht ungeschehen machen.«
»Nein, aber Sie können die Gegenwart verändern. Darin liegt die Macht der Schriftsteller. Das Paradies der Schriftsteller – erinnern Sie sich? Ich weiß, dass Sie wissen, wie es geht.«
»Harry, mit Ihrer Hilfe bin ich erwachsen geworden! Sie haben aus mir den gemacht, der ich heute bin!«
»Das bilden Sie sich nur ein, Marcus. Ich habe gar nichts gemacht. Sie sind von ganz allein erwachsen geworden.«
»Nein! Das stimmt nicht! Ich habe Ihre Ratschläge befolgt! Ich habe Ihre einunddreißig Ratschläge befolgt! So habe ich mein erstes Buch geschrieben! Und auch das nächste! Und alle anderen! Ihre einunddreißig Ratschläge, Harry, wissen Sie noch?«
Er lächelte traurig. »Natürlich weiß ich noch, Marcus.«
Burrows, Weihnachten 1999
»Frohe Weihnachten, Marcus!«
»Ein Geschenk? Danke, Harry. Was ist das?«
»Machen Sie es auf. Es ist ein Minidisc-Player, offenbar der neueste Stand der Technik. Sie machen sich andauernd Notizen zu allem, was ich Ihnen erzähle, aber wenn Sie sie verlieren, muss ich alles wiederholen. Damit können Sie alles aufnehmen, habe ich mir gedacht.«
»Sehr gut. Los geht’s!«
»Was?«
»Geben Sie mir den ersten Rat. Ich werde alle Ihre
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