Die Wahrheit und andere Lügen
Kopf an seine Schulter. Bis zu diesem Tag hatte Henry noch keinem Menschen so viel von sich erzählt, und das meiste davon stimmte auch. Er lieà nichts Wesentliches aus, beschönigte nichts und erfand so gut wie nichts dazu. Es war ein glücklicher Nachmittag im botanischen Garten, der erste von vielen glücklichen Nachmittagen mit Martha.
Sie schliefen auch die nächste Nacht in Marthas Bett nahe dem Ofen. Zärtlich und nüchtern war er diesmal, behutsam, fast scheu. Und sie war ganz still, ihr Atem war heià und schnell. Und später dann, als er fest schlief, stand Martha auf und setzte sich an die Schreibmaschine in der Küche. Henry erwachte von den Schlägen der Typenhebel. GleichmäÃig, mit kurzen Pausen, Punkt. Dann das Klingeln der kleinen Glocke am Zeilenende. Punkt, neue Zeile, Punkt, Absatz. Ein hohes Schnarren, wenn sie das beschriebene Blatt Papier aus der Maschine zog, ein mehrfaches kurzes Schnarren, wenn sie das neue Blatt einspannte. So also entsteht Literatur, dachte er. Das Geklapper ging die ganze Nacht bis zum Morgen.
Als Nächstes reparierte Henry das Bett. Dann organisierte er eine Gummiunterlage für die Schreibmaschine, besorgte zwei neue Küchenstühle und bohrte den Stromzähler auf, um Heizkosten zu sparen. Während er das alles erledigte, dachte er darüber nach, wie man ohne Eigenkapital ein Heim schaffen könnte und in wieweit er dafür geeignet war.
Er räumte auf und machte sauber, Martha kommentierte seine häuslichen Aktivitäten nicht weiter. Sie kommentierte grundsätzlich nichts. Henry bewunderte das. Dabei hatte er nicht das Gefühl, sie sei meinungslos oder desinteressiert, nein, sie war einfach nur zufrieden und hatte nichts an ihm auszusetzen. Es war, als habe sie alles vorausgesehen.
Henry fiel auf, dass Martha ihre Geschichten niemals selber las. Sie sprach nicht davon, war nicht stolz darauf. Wenn eine beendet war, begann sie die nächste, wie ein Baum, der die Blätter im Herbst abwirft. Die nächste musste ihr bereits beim Verfassen der vorigen Geschichte klar geworden sein, denn zwischen der letzten und der nächsten lag keine schöpferische Pause. Wovon sie ihr Leben finanzierte, blieb Henry lange unklar. Sie hatte studiert, verriet aber nicht, was. Sie musste etwas Erspartes haben, ging aber selten zur Bank. Wenn es nichts zu essen gab, aà sie nichts. Am Nachmittag verlieà sie regelmäÃig die Wohnung, um im Stadtbad schwimmen zu gehen. Henry folgte ihr einmal, sie ging tatsächlich einfach nur schwimmen.
Im Keller fand Henry einen Koffer, gefüllt mit vergammelten Manuskripten, hastig versteckt wie Kindsleichen unter Rattenkot und Wasser. Die Seiten waren zu einer Masse verklumpt, einzelne Worte waren noch zu erkennen. Verlorene Geschichten. Auch das Manuskript zu Frank Ellis wäre verrottet oder an einem kalten Tag zu flüchtiger Wärme im Ofen geworden, hätte Henry es nicht versteckt. Das war sein Verdienst. Er hatte Frank Ellis gerettet, wenngleich nicht erfunden, wie er später seinem Gewissen erzählte. Immerhin.
»Literatur interessiert mich nicht«, sagte Martha zu dem Thema, »ich will nur schreiben.« Den Satz merkte sich Henry für später. Woher Martha in ihrer hermetischen Erlebniswelt die Ideen für die Erschaffung so illustrer Figuren nahm, blieb ihm ein Rätsel. Sie war nicht weit gereist und kannte doch die ganze Welt. Er kochte für sie, sie sprachen, schwiegen und schliefen miteinander. Nachts stand sie zum Schreiben auf, am frühen Nachmittag machte er Essen und las danach, was sie geschrieben hatte. Er verwahrte jede ihrer geschriebenen Seiten auf, sie fragte nie mehr danach. So wuchs ihre Liebe mit lautloser Selbstverständlichkeit. Sie freuten sich am Gemeinsamen und profitierten voneinander, Henry hatte den Eindruck, man könne unmöglich zufriedener sein. Es lag nur an ihm, diese Harmonie nicht zu zerstören.
Henry sandte das Manuskript von Frank Ellis unter seinem Namen gleichzeitig an vier Verlage, die er sich aus dem Branchenbuch gesucht hatte. Vorher musste er Martha hoch und heilig versprechen, unter keinen Umständen zu verraten, wer das geschrieben hatte. Es sollte ein lebenslängliches Geheimnis bleiben, und würde tatsächlich etwas veröffentlicht werden, dann nur unter seinem Namen. Henry fand das in Ordnung und schwor es. Er hielt Wort auf seine Weise.
* * *
Lange kam keine Antwort. Henry
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