Die Wahrheit und andere Lügen
schmeichelhaftesten Kritiken vorgelesen, aber die wollte davon nichts wissen. Sie schrieb bereits am nächsten Roman. Ruhm bedeutete ihr nichts. Sie las grundsätzlich keine Rezensionen, er hingegen las jede einzelne, unterstrich die schmeichelhaftesten Passagen mit dem Lineal, schnitt sie aus und klebte sie ein. Jeder Satz eine Festung. Diesen Satz mochte er besonders. Er stand auf dem Klappentext, in fetten Buchstaben und war von einem gewissen Peffenkofer, der für die Literaturbeilage einer groÃen Tageszeitung schrieb. Er hätte von ihm sein können, fand Henry, so schön kurz und prägnant. War er aber nicht. Nichts war von ihm.
III
D er Dichtertod auf nasser Fahrbahn. Ein Schlingern, ein kurzer Rückblick aufs Leben, dann die Ewigkeit. Daran dachte Henry, während er an leuchtend gelben Rapsfeldern entlang von den Klippen nach Hause fuhr. Konnte ein Tod tragischer und zugleich ungerechter sein, als durch die kalte Hand des Zufalls herbeigeführt? Und so passend für ihn. Camus war diesen Tod gestorben, Randall Jarrell und Ãdön von Horváth, nein, der Ãrmste, das war ein Ast auf den Champs-Ãlyseés.
Henry war jetzt vierundvierzig, die Sonne des Erfolgs schien senkrecht auf ihn herab, der Tod würde ihn unsterblich machen, und das Geheimnis war sicher bei Martha. Sie würde nach seinem Tod weiterschreiben und alle Manuskripte im Keller verrotten lassen. Henry fand das sehr beruhigend, obwohl er nicht die Absicht hatte, vor seiner Frau zu sterben. Doch in diesem Moment wünschte er es sich. Alles war leichter, als ihr zu gestehen, dass er ein Kind mit einer anderen Frau gezeugt hatte. Und ausgerechnet mit Betty.
Henry sah die beiden Frauen an seinem Grab stehen. Martha, verschwiegener Quell seines Ruhms, so zierlich und unergründlich, Seite an Seite mit Betty, der Venus mit den Sommersprossen und Mutter seines Kindes. Hoffentlich würden die beiden Frauen miteinander auskommen und keinen Krieg führen, sie waren doch sehr verschieden. Und zwischen ihnen sein Kind. Martha würde sofort die Ãhnlichkeit mit Henry erkennen. Könnte sie ihm je verzeihen? Hatte Betty das Zeug, eine gute Mutter werden? Eher nicht. Doch was scherte ihn das jetzt?! An seinem Grab würden viele weinen, manche sogar leiden, andere sich herzlich freuen, aber das Schönste war: Er, Henry, wäre für niemanden zu sprechen, müsste sich für nichts mehr schämen, nicht mehr verstellen und nichts mehr fürchten. Herrlich.
Leider war die StraÃe trocken, und Bäume waren keine zu sehen. Henrys dunkelblauer Maserati hatte jeden denkbaren Sicherheits-Schnickschnack, ABS und EPS und alles weitere auch, der Airbag würde ihn auffangen, die Sprengladung würde den Gurt anziehen. Der Wagen würde ihn nicht sterben lassen â und Henry sah sich als Untoter an einer Herzlungenmaschine verdämmern. Eine scheuÃliche Vorstellung. Henry erhöhte das Tempo. Mit zweihundert Kilometern pro Stunde könnte auch das beste Sicherheitssystem nichts mehr bewirken, wenn jetzt nur noch ein Baum käme.
Das Telefon klingelte. Es war Moreany. Henry nahm den Fuà vom Gas.
»Henry, wo bist du?«
»Auf Seite dreihundert.«
»Oh, wie schön. Wie schön!« Moreany sagte Angenehmes gerne zweimal. Ãberflüssigerweise, wie Henry fand.
»Kann ich etwas lesen?«
»Bald. Es fehlen noch zwanzig Seiten, schätze ich mal.«
»Zwanzig? Das ist ja phantastisch phantastisch. Wie lange brauchst du noch?«
»Zwanzig Minuten.« Moreany lachte. »Dann bin ich zu Hause und setze mich wieder ran.«
»Hör mal, Henry, ich habe entschieden, wir kommen mit zweihundertfünfzigtausend Exemplaren raus.«
Henry wusste, dass Moreany kein Geld von der Bank bekam. Er wollte auch keines. Moreany setzte immer sein gesamtes persönliches Vermögen ein, um Druck und Kampagne für Henrys Bücher zu finanzieren.
»Willst du nicht vorher mal lesen, bevor du wieder dein Haus verpfändest?«
»Ich verpfände mein Haus, wenn es mir passt, mein Lieber, und niemals so gern wie heute. Stell dir vor, der Peffenkofer bittet mich um ein Vorab-Leseexemplar. Er hat mich gebeten. Wie findest du das?«
Peffenkofer, der Erfinder von Jeder Satz eine Festung , war der Magnet unter den Kritikern. In dieser Eigenschaft zog er alles Schlechte aus der literarischen Produktion und lieà nur das Gute übrig. Wenig beeindruckte ihn, nichts
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