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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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musterte die abgehängte Tafel, Jenssen brachte ihm Kaffee. Das war zweifellos Phase eins der Inquisitionsprozedur, man ließ ihn allein vor der abgehängten Tafel sitzen. Seit dem Mittelalter ist dokumentiert, dass schon das Zeigen der Folterinstrumente genügt, um den Widerstand des Delinquenten zu brechen.
    Â»Wir haben eine Menge Antworten, auf die wir noch nicht die richtigen Fragen gefunden haben«, eröffnete Awner Blum das Gespräch. Das war nicht ungeschickt, dachte Henry und nippte an seinem Kaffee, der heiß war, aber ausgesprochen dünn. »Sie werden sich bestimmt wundern, warum wir Sie hierher ins Präsidium bitten, Herr Hayden.«
    Â»Ich wundere mich nicht, Herr Blum, es tut mir im Herzen weh, dass Sie mich so hinhalten mit der Wahrheit. Was geschah mit meiner Frau?«
    Blum wechselte einen kurzen Blick mit Jenssen. »Der Grund dafür ist, dass wir vor einem Rätsel stehen, wie ich es in meiner Laufbahn noch nicht erlebt habe. Wir brauchen Ihre Hilfe. Sie kannten Ihre Frau besser als jeder andere.«
    Â»Also ein Verbrechen.«
    Â»Warum denken Sie das, Herr Hayden?«
    Â»Ich denke das, weil wir hier im Polizeipräsidium sitzen und Sie von der Mordkommission sind, oder liege ich da falsch?«
    Â»Nicht ganz. Fest steht, dass Ihre Frau keines natürlichen Todes starb. Es kann auch Selbstmord gewesen sein.«
    Henry schaute zu Jenssen, der freundlich lächelte und ebenfalls an dünnem Kaffee nippte. War er heute Morgen auch neben einer Frau aufgewacht? Hatte er Zeitung gelesen, die nasse Wäsche aus der Waschmaschine genommen und sich ein Sechs-Minuten-Frühstücksei gekocht? Oder aß er lieber Vier-Minuten-Eier? Was unterscheidet Polizisten von Ver brechern, zivilisierte Menschen von unzivilisierten außer der Rohheit ihrer Instinkte und der Kochzeit ihrer Früh stückseier? »Ich sagte Herrn Jenssen bereits, dass Suizid für meine Frau keine Option war. Sie war glücklich. Wir waren glücklich. Sie hätte mich niemals allein gelassen.« Wieder trat Stille ein. »Wird das hier ein Quiz?«, fragte Henry. »Soll ich raten, woran meine Frau gestorben ist?«
    Jenssen stellte den Kaffeebecher ab. »Sie haben ihr Fahrrad und die Badesachen am Strand gefunden.«
    Â»Das hatten wir schon. Meine Erinnerung daran beginnt zu verblassen, aber ja, dort war das.«
    Â»Ihre Frau ist nicht am Strand ertrunken, sondern dreißig Kilometer weiter östlich«, fuhr Jenssen fort. Die Männer schauten Henry beim Verarbeiten dieser Information zu. Henry sah im Geiste das Campingmobil an den Klippen und die nackten britischen Kinder, die sich mit Kienäpfeln bewarfen.
    Â»Wie kann das sein?«
    Â»Das fragen wir uns auch. Ihre Frau saß in einem Auto. Sie war noch angeschnallt. Sie ist in dem Auto über eine Steilklippe ins Meer gestürzt.«
    Henry sprang auf. »Das ist nicht möglich!«
    Â»Warum nicht?«
    Â»Ihr Wagen steht noch in der Scheune.«
    Â»Es war nicht ihr Wagen.« Blum ging zur Tafel und zog mit einem Ruck die Decke herunter. »Dieser Wagen gehörte Frau Bettina Hansen, Ihrer Lektorin.«
    Die Fotos waren in Farbe und erschreckend genau. Der Subaru seitlich und frontal. Marthas von Fischen zerfressener Körper saß, nur vom einem Gurt gehalten, auf dem Fahrersitz, ihr skelettierter Schädel war kaum noch von Hautfetzen bedeckt, der fleischlose Mund aufgerissen, die Zähne perfekt erhalten. Henry schloss die Augen. Wieder kamen die Bilder zurück. Er sah, wie sie lautlos schreiend gegen die Scheiben schlug, wie sie versuchte, die Tür zu öffnen, und das entsetzlich kalte Wasser in ihre Lungen drang. Er sah Martha sterben.
    Die Männer ließen ihm Zeit. Er betrachtete wortlos die Bilder, dann drehte er den Männern den Rücken zu und schaute aus dem Fenster in den trostlosen Hof.
    Jenssen räusperte sich schließlich. »Ein Erdrutsch an der Steilküste hat eine Druckwelle erzeugt, die den Wagen zwischen den Felsen an die Oberfläche gespült hat, falls es Sie interessiert.«
    Â»Wem, sagten Sie, gehört dieses Auto?«
    Â»Es gehörte Frau Bettina Hansen, Ihrer Lektorin.«
    Henry drehte sich um und sah in die Gesichter der Männer. Sie sahen aus wie Taubstumme, die zum ersten Mal die Arie der Königin der Nacht hören. »Das ist die Antwort«, sagte Henry leise, »und wie lautet die Frage?«
    Â»Die Frage lautet: Haben Sie

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