Hesmats Flucht
AUF DER FLUCHT
Hesmat hatte sich nicht umgedreht. Erst als das Auto die Ebene nördlich von Mazar-e Sharif in Richtung Osten durchschnitt, wurde ihm bewusst, dass er wohl nie mehr zurückkehren würde. Er hatte auf der zerfetzten Rückbank einen Platz bekommen, eingepfercht zwischen drei fremden Männern, die sich unruhig hin und her schoben und nach jedem Schlagloch von Neuem begannen, ihren Platz zu verteidigen.
Sobald sie Mazar verlassen hatten, leerten sich die Straßen, und sie kamen schneller voran. Sie waren zu sechst in dem Wagen, in dem Tuffon ihm einen Platz organisiert hatte. Tuffon, der Freund seines Vaters, hatte Hesmat lange umarmt, dann hatte er ihn in das Auto gesetzt. Jetzt flatterte der Fluchtplan in Hesmats Händen im Fahrtwind des offenen Fensters, und er wiederholte noch einmal die Nummern, Adressen und jeden Punkt auf dem Plan, den Tuffon nächtelang entworfen hatte und den er längst auswendig kannte.
»Ich weiß nicht, ob du alles noch so vorfinden wirst, wie ich es in Erinnerung habe«, hatte Tuffon gesagt. »Vieles hat sich wahrscheinlich verändert, aber das meiste wird dir doch nützlich sein.« Er hatte einen ganzen Tag an der improvisierten
Karte gezeichnet. Stundenlang war er in seinem Geschäft auf und ab gegangen und hatte versucht, sich Details der Route wieder in Erinnerung zu rufen. Immer wieder hatte er der Karte einen weiteren Hinweis, einen weiteren wichtigen Punkt hinzugefügt. Er hatte alles aufgezeichnet, was für Hesmat von Bedeutung sein konnte. Wege, die er meiden sollte, Dörfer, die er umgehen musste. Er hatte ihm gezeigt, wo er Menschen treffen würde, die ihm möglicherweise weiterhalfen. Er hatte auch von Schluchten gesprochen, die den sicheren Tod bedeuteten.
»Du darfst auf keinen Fall den direkten Weg nehmen«, hatte er gesagt. »Egal wie verlockend die Sache auch aussieht, du musst zuerst nach Osten, hinein in die Berge. Es ist ein sehr langer Umweg, aber es ist der einzig sichere Weg. Die Grenze im Norden, hinüber nach Tadschikistan, ist dicht. Man wird ständig kontrolliert, außerdem wird dort gekämpft. Hör mir gut zu«, sagte er dann. »Du wirst viele Leute auf deinem Weg treffen. Sind es Flüchtlinge, ist es gut. Wenn du Schmuggler triffst, kannst du dich ihnen für ein paar Tage anschließen, musst aber vorsichtig sein. Du darfst nicht zu lange bei ihnen bleiben. Schlaf nicht in ihrem Zelt. Sag ihnen, du wärst auf dem Weg nach Hause. Sag, du warst bei deinen Verwandten in Kabul und du bist jetzt auf dem Weg zurück zu deinem Vater. Sie werden dich nichts Genaueres fragen. Lass dich nicht täuschen. Und vergiss nicht, du musst zuerst in die Berge! Lass dich von niemandem dazu überreden, direkt über die Grenze zu gehen!«
Es war eine sehr genaue Karte und Hesmat fasste Mut. Er würde damit über die Grenze kommen. Von dort würde er mit dem Zug einfach nach Moskau fahren, wo Tuffon Freunde hatte. »Sie werden auf dich warten«, hatte er gesagt, »ich gebe ihnen Bescheid. Du kannst ihnen vertrauen. Du musst
sie unbedingt finden. Ohne Freunde hast du in Moskau keine Chance.« Immer wieder waren Tuffon Zweifel gekommen. Es war Selbstmord, sagte er sich, aber der Junge hatte den Willen seines Vaters geerbt.
Zwei Tage nach dem Streit mit seinem Großvater war Hesmat, noch bevor die Sonne aufgegangen war, in das Auto nach Kunduz gestiegen. Jetzt holperte der Wagen über die schlechte Straße und ließ die Stadt in einer Staubwolke verschwinden, die der Wagen hinter sich herzog. Die Dollarscheine, die nicht mehr in seinen Gürtel gepasst hatten, hatte er in seine Unterhose gestopft. Jetzt zwickten die Scheine in seinem Schritt. Das große Tuch seiner Mutter, das er zu einer Schultertasche gebunden hatte, lag auf seinen Knien. Nachdem sich der Großvater am vergangenen Abend schlafen gelegt hatte, hatte er Brot, ein Stück getrocknetes Fleisch und vier Eier in das Tuch gepackt und alles hinter dem Haus versteckt. Er konnte kein Auge zumachen, so groß war seine Aufregung und vor allem die Angst.
Sein kleiner Bruder Hasip schlief ruhig neben ihm und lachte ihn im Schlaf an. Vielleicht würde Hesmat ihn nie wiedersehen. Niemand glaubte daran, dass er die Flucht überleben würde. Welche Chance hatte ein Elfjähriger schon, allein aus Afghanistan nach London zu flüchten? Er drückte Hasip einen letzten Kuss auf die Stirn, drehte sich um und versuchte, nicht zu weinen. Dann packte er das Tuch mit dem Essen, das er in einer Kiste vor den streunenden Hunden
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