Die Wall Street ist auch nur eine Straße
verkauft man etwas, das man gar nicht besitzt? Ich wende mich an J. P. Morgan, leihe mir 100 Aktien und verkaufe sie zum aktuellen Kurs von 25 Dollar. Ich verkaufe sie, weil ich glaube, dass sie an Wert verlieren werden. Wenn sie dann auf 10 Dollar gesunken sind, kaufe ich 100 Aktien und gebe sie an J. P. Morgan zurück. Die Bank hat wieder ihre 100 Aktien, ich habe meinen Gewinn, und das Leben geht weiter.
Leerverkäufe sind für den Markt in der Tat unverzichtbar. Sie sorgen für Liquidität und Stabilität. Der Markt braucht Käufer und Verkäufer. Ohne Verkäufer können die Kurse durch die Decke schießen, ohne Käufer brechen sie zusammen. Nehmen wir einmal an, dass während der Dotcom-Manie jeder eine Aktie wie Cisco kaufen will. Die Aktie steigt von 20 auf 80 Dollar. Nun kommen die Leerverkäufer ins Spiel. Vielleicht steigt die Aktie dann noch auf 90 Dollar. Ohne die Leerverkäufer würde sie auf 110 Dollar steigen. Ohne Leerverkäufer gäbe es überhaupt keine Verkäufer – es gäbe keine Liquidität und die Entwicklung würde völlig verrückt verlaufen. Leerverkäufer kühlen die Manie ab.
Nehmen wir an, dass die Leerverkäufer falschliegen. Dann müssen sie ihre Short-Positionen glattstellen und werden aus dem Markt gedrängt. Und die Aktie steigt bis auf einen Kurs, den sie ohnehin erreicht hätte. Aber nun nehmen wir an, dass die Leerverkäufer richtigliegen – sie haben in der Vergangenheit übrigens besser abgeschnitten als die meisten Marktteilnehmer –, und die Aktie nähert sich dem Zusammenbruch. Jeder gerät in Panik und will unbedingt aussteigen. Aber weil die Aktie kollabiert, gibt es keine Käufer. Nur eine Käufergruppe gibt es tatsächlich noch: die Leerverkäufer. Sie müssen die Aktie zurückkaufen. Sie müssen die Aktien zurückgeben, die sie zuvor geliehen haben. Sie müssen ihre Short-Positionen glattstellen. Daher stürzt während dieses Zusammenbruchs die Aktie nicht so tief ab, wie es sonst vielleicht der Fall gewesen wäre. Eine Aktie, die vielleicht auf 3 Dollar gefallen wäre, sinkt nur auf, sagen wir mal, 8 Dollar.
Leerverkäufer sind also gut für den Markt. Sie haben Sie davor bewahrt, die gescheiterte Aktie bei 110 Dollar zu kaufen. Wenn Sie zum Höchstkurs gekauft haben, dann eben nur bei 90 Dollar. Und wenn alles schiefgeht, dann können Sie dank der Leerverkäufer bei 8 Dollar statt bei 3 Dollar aussteigen. Leerverkäufe gibt es schon seit ungefähr 400 Jahren, weil sie an den Märkten ausführlich geprüft und für wertvoll befunden worden sind.
Für Politiker, die Leerverkäufe jahrhundertelang verdammten, haben sie sich als sehr nützlich erwiesen. Wenn die Kurse sinken, können sie immer wieder die bösen Spekulanten beschuldigen. Wenn der Aktienmarkt von 1000 auf 500 fällt, Menschen ihre Jobs verlieren und überall Unternehmen pleitegehen, wird kein Politiker sagen: »Mein Gott, ich habe alles falsch gemacht, ich werde zurücktreten.« Nein, die bösen Leerverkäufer an der Wall Street sind an allem schuld!
2008 wurde im Verlauf eines Interviews, das CNBC mit mir führte, allgemein bekannt, dass ich die Hypothekenbank Fannie Mae leer verkauft hatte. Schon seit ein, zwei Jahren hatte ich mich entsprechend geäußert: Fannie Mae war ein Schwindel, der am Rand des Zusammenbruchs stand. Vier Jahre zuvor hatte ich in meinem Buch Hot Commodities ( Rohstoffe , FinanzBuch Verlag) die Ansicht vertreten, dass Fannie Mae und Freddie Mac bald für Skandale sorgen würden. Jetzt also schrieben wir das Jahr 2008, und die Aktie von Fannie Mae stürzte von 60 Dollar bis in den Bankrott. Zur Zeit des CNBC-Interviews war sie schon auf etwa 20 Dollar gesunken, und die Journalistin, mit der ich sprach, Sharon Epperson – wohlgemerkt eine Reporterin, die für einen Wirtschaftssender arbeitete – meinte, dieser Zusammenbruch sei meine Schuld.
So höflich es mir möglich war entgegnete ich Miss Epperson: »Hören Sie: Wenn Sie wirklich glauben, dass Fannie Mae wegen der Leerverkäufer zusammenbricht, dann sollten Sie sich wirklich einen anderen Job suchen.«
Vom sprichwörtlichen Mann auf der Straße hätte ich diesen Mangel an Verständnis erwartet – nicht jeder ist mit Leerverkäufen vertraut –, aber ein solches Maß an Ignoranz bei einer Wirtschaftsreporterin bei einem TV-Sender überraschte sogar mich. Die Leerverkäufer sind nicht die Ursache, sondern nur die Überbringer der schlechten Nachrichten, und sie haben viele der großen Betrügereien aufgedeckt. Zu den
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