Die Wanderapothekerin 4: Gift (German Edition)
es Klara durch den Kopf. Da streifte ihr Blick den erhöhten Mittelteil des Hauptflügels. Die Fahne wehte auf Halbmast und zeigte an, dass es einen Trauerfall oder ein anderes Unglück gegeben haben musste.
Beklommen ging Klara weiter und erreichte kurze Zeit später den mit feinem Kies bestreuten Vorplatz. Nun konnte sie erkennen, dass etwas abseits des Schlosses Wirtschaftsgebäude und Ställe standen. Doch weder hier noch dort waren Leute zu sehen.
»Hoffentlich ist hier nicht die Pest ausgebrochen«, sagte Martha in einem Ton, als würde sie am liebsten kehrtmachen und im Wald übernachten.
»Ich will es nicht hoffen!« Klara sah kurz zum Haupteingang des Schlosses über der breiten, zweiteiligen Freitreppe hoch.
Dort durfte sie nicht einfach hochsteigen und anklopfen, sonst würde sie mit Schimpf und Schande davongejagt. Doch wo befand sich der Eingang für ihresgleichen? Sie ging um den Hauptflügel herum und entdeckte im rechten Seitenflügel eine Tür. Mehrmals atmete sie tief durch, um die Beklemmung zu überwinden, die sie angesichts der unheimlichen Stille erfasst hatte. Als sie gegen die Tür pochte, rührte sich nichts.
»Das Schloss kann doch nicht ausgestorben sein«, murmelte sie, wartete noch ein wenig und klopfte erneut. Kurz darauf verrieten Geräusche, dass sich jemand näherte. Die Tür wurde einen Spalt geöffnet, und sie sah ein Gesicht vor sich, das im Dunkel des Flurs kaum zu erkennen war.
»Was willst du hier?«, fragte eine Frauenstimme ungehalten.
»Ich bin die Wanderapothekerin Klara Schneidt aus Königsee«, stellte Klara sich vor und erklärte, dass sie mit den Arzneien des Laboranten Just unterwegs sei.
»Just?« Die Frau schien nachzudenken. »War das nicht all die Jahre ein Mann mittleren Alters und im letzten Jahr ein junger Bursche? Der hat mir das Kraut ausgeschüttet, sage ich dir. Wollte auf dem Rückweg noch einmal vorbeikommen und mir etwas bringen, hat sich aber nicht mehr sehen lassen!«
Es sah so aus, als wollte die Frau ihr die Tür vor der Nase zuschlagen. Deshalb hob Klara bittend die Hände. »Das war mein Bruder! Er ist von seiner Wanderung nicht zurückgekehrt, und wir wissen nicht, was mit ihm geschehen ist.«
Nun stutzte die Frau. »Er ist verschwunden, sagst du?«
»Ja! Ein Jahr zuvor ist mein Vater verschollen und im letzten Jahr mein Bruder. Jetzt trage ich die Arzneien aus, bis mein kleiner Bruder diese Pflicht übernehmen kann.«
Die Bitterkeit in Klaras Worten rührte die Frau, und sie öffnete die Tür. »Komm herein! Wir werden uns später unterhalten. Jetzt muss ich mich um die junge Herrin kümmern. Sie ist schwanger und schwerkrank. Wenn sie ebenfalls stirbt – wie ihr Gemahl und ihre Schwiegereltern –, wird Baron Ludwig von Triberg der neue Herr hier. Dann gnade uns allen Gott!«
Verwundert über den seltsamen Empfang, trat Klara ein. Martha folgte ihr und sah sich einem kritischen Blick der fremden Frau ausgesetzt.
»Wer ist das?«, fragte diese.
»Meine Helferin!« Klara lächelte unsicher, denn im Allgemeinen zogen die Königseer Wanderapotheker allein durch das Land.
Die Fremde gab sich jedoch mit ihrer Erklärung zufrieden. »Kommt mit!«, befahl sie und schritt ihnen voraus.
Klara und Martha brauchten geraume Zeit, bis sich ihre Augen an die Düsternis im Inneren gewöhnt hatten. Martha bezahlte es damit, dass sie sich das Schienbein an einer herumstehenden Truhe anstieß.
»Aua!«, stöhnte sie und funkelte die Frau empört an.
»Ihr müsst euch hinter mir halten«, antwortete diese ungerührt.
»Ein bisschen Licht hättet ihr hier schon machen können«, beschwerte Klara sich.
»Uns ist nicht nach Licht und Helligkeit zumute! In diesem Haus ist der Tod ein steter Gast. Sollen wir ihm etwa seinen Weg erleuchten, damit er seine Opfer rascher findet?«
»Ist hier eine Seuche ausgebrochen?«, fragte Klara erschrocken.
»Keine Seuche, die unsereins trifft. Sie rafft nur die Hochwohlgeborenen hin, zuerst den alten Herrn, dann die alte Gräfin und den jungen Herrn. Nun ringt dessen Gemahlin mit dem Tod! Ich hatte so gehofft, dein Bruder würde die geweihte Kerze bringen, um die ich ihn gebeten hatte, doch er ist nicht zurückgekehrt. Wahrscheinlich ist Baron Triberg an seinem Verschwinden schuld. Von diesem stammt gewiss auch das Gift, das die Familie der Reichsgrafen auf Waldstein einen nach dem anderen ausrottet.«
»Bei Gott, das wäre schrecklich!«, stieß Klara aus. »Ich hatte die Hoffnung, Gerold wäre von
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