Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
sie hatte lediglich Mini-Bruchstücke von Daten. Keiner hatte eine Ahnung davon, warum das U-Boot untergegangen war, geschweige denn, wie schnell es fuhr oder in welchem Neigungswinkel es auf den Meeresboden sank. Und doch: Obwohl keinem Mitglied der Gruppe auch nur einer dieser Fakten bekannt war, vermochte die Gruppe als Ganzes sie alle zu ermitteln.
ERSTER TEIL
ERSTES KAPITEL
Die Weisheit der Massen
1
Falls Amerikaner sich in späteren Jahren noch an irgendwelche Einzelheiten des TV-Spektakels »Wer wird Millionär?« erinnern sollten, dann vermutlich an panische Anrufe von Teilnehmern bei Freunden und Verwandten. Vielleicht wird ihnen auch noch schwach die kurze Phase im Gedächtnis haften bleiben, in der Regis Philbin wegen seines Mutes, zu einem dunkelblauen Hemd eine dunkelblaue Krawatte zu tragen, zu einer Modeikone avancierte. Nicht erinnern werden sie sich wahrscheinlich daran, dass bei »Wer wird ein Millionär?« Woche um Woche Gruppenintelligenz gegen Einzelintelligenz zum Einsatz kam und dass Woche für Woche die Gruppenintelligenz obsiegte.
»Wer wird Millionär?« war, strukturell gesehen, ziemlich einfältig. Jedem Kandidaten wurden zunehmend schwierigere Multiple-choice-Fragen gestellt – und wenn er 15 Fragen in Folge richtig beantwortete, nahm er eine Million Dollar mit nach Haus. Die Show hatte einen Gag: Wenn ein Teilnehmer ob einer Frage in Schwierigkeiten geriet, standen ihm drei Möglichkeiten offen, diese Klippe dennoch zu meistern. Erstens konnte er sich für die Eliminierung von zwei der vier Antwortmöglichkeiten entscheiden. (So sicherte er sich wenigstens eine Fünfzig-zu-fünfzig-Chance auf eine richtige Antwort.) Zweitens konnte er sich telefonisch mit einer befreundeten oder verwandten Person verbinden lassen, die er vor Beginn der Show als einen ihm als besonders gescheit bekannten Menschen genannt hatte, und sie um die richtige Antwort bitten. Und drittens hatte er die Möglichkeit, das Studiopublikum über die Antwort abstimmen zu lassen, das ihm daraufhin mittels Computer aus der Klemme zu helfen versuchte. Nach allem, was wir über Intelligenz zu wissen meinen, müsste in solch einer Situation eigentlich das kluge Individuum am hilfreichsten sein. Und diese »Experten« schnitten dabei tatsächlich gut ab. Sie steuerten – unter Zeitdruck – in 65 Prozent der Fälle die richtige Antwort bei. Im Vergleich mit dem Studiopublikum stehen sie freilich blass da. Diese zufällig entstandene Gruppe von Leuten, die an einem Werktagnachmittag nichts Besseres zu tun hatten, als sich in ein Fernsehstudio zu hocken, fand nämlich in 91 Prozent der Fälle die richtige Antwort.
Zugegeben: Einer wissenschaftlichen Untersuchung würden die Ergebnisse von »Wer wird Millionär?« nicht standhalten. Es ist nicht bekannt, wie klug die Experten waren. Insofern lässt sich auch nicht bewerten, welcher Intelligenzquotient erforderlich gewesen wäre, sie zu übertreffen. Weil den Experten und dem Studiopublikum zudem nicht immer die gleichen Fragen gestellt wurden, wäre es immerhin möglich – obzwar nicht wahrscheinlich -, dass das Publikum leichtere Fragen zu beantworten hatte. Trotz solcher Vorbehalte fällt es aber schwer, sich dem Gedanken zu verschließen, dass die Erfolge des Studiopublikums bei »Wer wird Millionär?« eine zeitgenössische Bestätigung des Phänomens darstellt, auf das Francis Galton vor etwa einem Jahrhundert als Erster gestoßen ist.
Und die Möglichkeiten von Gruppenintelligenz sind – zumindest was Fragen betrifft, bei denen es um Tatsachen geht – mittels einer Reihe von Experimenten aufgezeigt worden, die amerikanische Soziologen und Psychologen in der goldenen Ära der Erforschung gruppendynamischer Phänomene zwischen 1920 und Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts durchführten. Obwohl es allgemein (wir werden darauf noch zurückkommen) so ist, dass Gruppen umso besser abschneiden, je größer sie sind, waren die Gruppen, mit denen die meisten dieser frühen Experimente durchgeführt wurden – sie blieben aus irgendwelchen Gründen außerhalb von Universitätskreisen ziemlich unbekannt -, relativ klein. Dennoch erbrachten sie sehr gute Leistungen. Losgetreten wurde diese Lawine mit einer Experimentenserie der Soziologin Hazel Knight an der Columbia University in den zwanziger Jahren. In der ersten, die schon ihrer Simplizität wegen beeindruckt, forderte Knight die Studenten ihres Seminars auf, die Raumtemperatur zu schätzen.
Weitere Kostenlose Bücher