Die Welfenkaiserin
Ludwig nach dem Tod des eigenen Vaters auch der alten Berater Karls größtenteils entledigt hatte. Ein neuer Herrscher braucht neue Leute.
Kurz ging dem Grafen durch den Kopf, zu welch ungeahntem Ansehen jener kommen konnte, der gar mit dem Kaiser selbst verschwägert war. Er sah eine glänzende Zukunft für seine Söhne Konrad und Rudolf voraus und sich auf angenehmste Weise der Schwierigkeiten mit seiner störrischen ältesten Tochter enthoben. Es würde jetzt nicht nötig werden, sie ins Kloster zu stecken, wie er eigentlich schon geplant hatte. Er wandte sich an den Wortführer, der bereits den dritten Pokal des hauseigenen Weins geleert hatte.
»Wie viele Mädchen werden nach Aachen reisen, um sich der Brautschau zu stellen?«
Der Mann wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab und zuckte mit den Schultern. »Wie ich schon sagte, sind mehrere Boten ausgesandt worden. Wir haben vier Mädchen für würdig befunden; sie sind bereits auf dem Weg. Eure Tochter wäre unsere fünfte, wenn ihre Reinheit gewährleistet ist. Insgesamt könnten es zwanzig oder mehr Mädchen sein.«
»Und warum diese Eile?«
»Weil Kaiser Ludwig Anfang des Jahres Hochzeit halten will.«
»Und darum komm jetzt, Kind!«, drängte Frau Stemma. Sie wollte nach Judiths Hand greifen, um ihrer Aufforderung Nachdruck zu verleihen.
Judith rückte ab.
»Mich rührt niemand an!«, verkündete sie mit eisiger Stimme. Sie erhob sich, bat ihre Schwester Dhuoda, den Gästen Schlafplätze zuzuweisen, wünschte allen eine gute Nacht und verließ den Raum. Sie wusste, dass sie niemand zurückhalten würde. Schließlich hatte sie am Kaiserhof unter anderem gelernt, wie man sich Autorität verschafft.
Entrüstet wandte sich Frau Stemma an den Grafen.
»Haltet sie auf! Sie kann sich doch nicht dem Kaiser widersetzen!«
Der Graf zuckte mit den Schultern.
»Das bleibt abzuwarten«, wich er mit jenem Satz aus, den er auf Fragen nach Judiths Zukunft grundsätzlich benutzte. Sein Blick fiel auf Hemma, die den kleinen Schuh vom Tisch genommen hatte und nun vergeblich versuchte, einen ihrer Füße hineinzuzwängen.
Mit boshaftem Lächeln hielt Konrad ihr das Fleischmesser hin. »Wenn du dir die Zehen absäbelst, passt du vielleicht hinein«, bemerkte der Bruder und setzte hinzu: »Judith hat winzige Füßchen. Sie könnte mühelos hineinschlüpfen.«
»Auch sonst erscheint es nicht erforderlich zu sein, die Maße zu nehmen«, meinte der Wortführer der Gruppe. »Das Mädchen ist ausnehmend liebreizend, bei Weitem die Schönste, die wir gesehen haben. Und was die andere Untersuchung angeht …«, er wandte sich an den Grafen, stotterte ein wenig herum und brachte schließlich fast verschämt hervor: »Reitet Eure Tochter viel?«
»Sie ist auf dem Pferderücken zu Hause«, versicherte der Vater.
Der Bote nickte erleichtert. Wer die künftige Kaiserin an den Hof bringen würde, dem war eine hohe Belohnung in Aussicht gestellt worden. Unvorstellbar, dass seine Konkurrenten ein schöneres Mädchen als diese Judith auftreiben würden. Mit freundlichem Lächeln wandte er sich an seine Begleiterin: »Sagtet Ihr nicht selbst, Frau Stemma, dass erschöpfendes Reiten gelegentlich der Reinheit … abträglich sein könne?«
Frau Stemma brummte. Nach den Strapazen der langen Reise ärgerte es sie, um das Vergnügen gebracht zu werden, sich mit dem weichen Körper des Mädchens zu befassen und ihn eingehend zu untersuchen.
Zuversichtlich, dass den anderen der innere Aufruhr entgangen war, den die Nachricht der kaiserlichen Boten in ihr ausgelöst hatte, begab sich Judith in die Kammer, die sie sich mit Dhuoda und Hemma teilte. Angekleidet ließ sie sich auf ihr Lager fallen und stieß einen kleinen Jubelschrei aus. Eine Rückkehr nach Aachen! Endlich war das Wunder geschehen, auf das sie seit vier Jahren gehofft hatte, seit jenem Tag, da sie ihren tränenreichen Abschied vom Kaiserhof genommen hatte.
Damals hatte sie geglaubt, die Trennung von allem, was ihr lieb war, vor allem von ihrer Tante Gerswind, nicht verwinden zu können. Vergeblich hatte sie versucht, sich gegen ihre Entfernung vom Hof zu wehren, sich sogar bemüht, mit Zauberkünsten ihr Bleiben zu erwirken. Doch Gerswind selbst hatte sie dem Vater anvertraut und ihn aufgefordert, die Tochter schleunigst fortzubringen. Es würden fürchterliche Dinge am Hof geschehen, derer Judith nicht Zeugin werden dürfe.
Also hatte Graf Welf seine widerstrebende Tochter kurz nach dem Tode Karls des Großen
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