Die Welfenkaiserin
Stadt ihrer Träume heimkehren zu können. Um dann vor Ort Mittel und Wege zu finden, die ihr Verbleiben am Hof sicherten. Notfalls durch eine geeignete Heirat. Aber gleich mit dem Kaiser?
Ein alter Mann, dachte sie betroffen. Er musste um die vierzig sein, denn sie selbst war genauso alt wie sein ältester Sohn Lothar. Mit dem hatte sie früher gespielt, wenn Kaiser Karl seinen Sohn König Ludwig und dessen Familie aus Aquitanien zu sich nach Aachen bestellt hatte. Ein gewitzter und recht hübscher Knabe mit ziemlich langer Nase, erinnerte sie sich, den kann ich mir schon eher als Heiratskandidat vorstellen, wenn es denn sein muss. Dabei fiel ihr ein, dass der Aachener Bote auch sie soeben als alt bezeichnet hatte. Beruhigt atmete sie aus, denn wenn der Kaiser, wie sein Vater selig, vor allem Mädchen in der ersten Blüte ihres Lebens schätzte, würde er kaum sie erwählen, sondern eher eine niedliche Vierzehnjährige.
Ja, wollte sie denn nicht Kaiserin werden?
Genau diese Frage stellte ihr die Mutter, die am nächsten Morgen heimkehrte und mit der großen Neuigkeit überfallen wurde. Müde nach einer durchwachten Nacht, aber glücklich, dass Gebärende und Neugeborenes im kleinen Grubenhaus am Leben geblieben waren, ritt Gräfin Heilwig im Morgengrauen in den Altdorfer Hof ein. Auch wenn sie keine Hebamme war, so wurde sie doch oft zu Geburten gerufen, weil man auf gewisse Kräfte der Gräfin hoffte. Niemand hätte gewagt, es auszusprechen, aber die Tatsache, dass Heilwig als heidnische Sächsin geboren worden war, rückte sie in den Augen vieler einfacher Menschen in die Nähe einer weisen Frau. Dahinter steckte der Argwohn, das Christentum unterdrücke altbewährte Kenntnisse, über die nur noch wenige Menschen aus der alten Zeit verfügten. Sachsen, zum Beispiel. Heilwig hätte sich empört gegen solche Andeutungen verwahrt, wären sie ihr zu Ohren gekommen. Sie sah ihre Aufgabe darin, den armen Frauen mit kräftigenden Nahrungsmitteln, warmer Kleidung und fürsorglicher Umsicht beizustehen und, wenn die Sache hoffnungslos erschien, die Fürsprache des Herrn zu erbitten. Anders als ihre Schwester Gerswind, die noch immer heidnischen Bräuchen anhing und Judith sogar darin unterrichtet hatte, vertraute Heilwig bedingungslos auf das Wort Gottes. Als Judith in den Schoß der Familie zurückgekehrt war, hatte sie der Tochter strengstens untersagt, sich in den alten Bräuchen zu üben oder gar irgendwelchen Zauber einzusetzen. Sie wusste nicht, ob sich Judith an ihr Verbot hielt. So wie sie überhaupt nur sehr wenig von der Tochter wusste, die sie zwar geboren, aber im Alter von acht Jahren verloren hatte. Sie gestand sich ein, dass ihr das eigene Kind fremder war als die Frau, der sie in der Nacht zuvor beigestanden hatte. Das war nicht Judiths Schuld, sondern Heilwig selbst hatte dies heraufbeschworen, als sie im Jahr 804 mit dem kleinen Kind gen Norden gereist war, um ihre eigene Mutter vom Kriegshandwerk abzubringen. Der Anblick ihrer wohlgeratenen Enkelin sollte Geva davon abhalten, weitere Sachsenaufstände gegen Karl den Großen anzuführen. Heilwigs Plan scheiterte. Mit Geva und Judith wurde sie von den Mannen Karls in Hollenstedt festgenommen und nach Aachen verbracht. Der Kaiser gab Heilwig die Freiheit zurück und schickte ihre Mutter ins Kloster Chelles. Judith aber behielt er als Geisel am Hof – genau wie zwanzig Jahre zuvor Heilwigs Schwester Gerswind, die Beutefrau, wie sie später oft genannt wurde. Die Sünde, ihr Kind als Mittel zum Zweck benutzt zu haben, lastete schwer auf Heilwig. Sie suchte diese abzutragen, indem sie Judith ein Heim bot und sie vor den Heiratsplänen des Vaters, so gut sie es vermochte, schützte. Doch das gab ihr die verlorene Tochter nicht zurück.
»Willst du denn nicht Kaiserin werden?«, fragte sie, nachdem sie erfahren hatte, dass sich Judith gegen das Maßnehmen und die Untersuchung durch Frau Stemma verwahrt hatte.
»Wäre denn eine derart beschämende Prüfung einer künftigen Kaiserin würdig?«, wich Judith aus, da sie diese Frage auch für sich selbst noch nicht beantwortet hatte. »Außerdem liegt die Entscheidung beim Kaiser. Was ich will, spielt dabei wohl keine Rolle. Ich stelle mich in Aachen vor, dann sehen wir weiter.« Ihr fiel ein, wie bestimmt sich ihre Mutter vor sie gestellt hatte, wenn der Vater sie wieder mal einem Ehemann zuführen wollte. »Danke, dass du mich im Gegensatz zu allen anderen wenigstens gefragt hast«, sagte sie und schenkte
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