Die Welfenkaiserin
heimgebracht. Ein Heim, das Judith weder kannte noch wollte. In früheren Jahren hatte sie wiederholt Kaiser Karls Angebot, zu ihren Eltern zurückzukehren, von sich gewiesen. Ihr Zuhause war der Aachener Hof. Sie hatte sich dort nie als Geisel gesehen, sondern als geschätztes Mitglied des kaiserlichen Haushalts, als Zögling Gerswinds, der letzten Geliebten des alten Kaisers. Der hatte Judith liebevoll ›unsere kleine Welfin‹ genannt und ihr manches Mal versonnen über das Goldhaar gestrichen. Einhard, der Leiter der Hofschule, hatte sich stets lobend über ihre geistigen Leistungen und schreiberischen Fähigkeiten geäußert, und ihre Schönheit hatte bei Töchtern und Enkelinnen des Kaisers – anders als bei den beiden von der Natur wenig begünstigten Schwestern im dumpfen Altdorf – keinen Neid erregt. Ach, wie viel Schönheit es in Aachen doch gegeben hatte! An den Gebäuden, in den Schriften der Dichter und Philosophen, in den Kunstwerken, der Musik, in der ganzen Umgebung überhaupt, in den Gedanken und der Sprache der Hofangehörigen und in der allgemeinen Freude am Leben. In der Rückschau schien ihr der gesamte Aachener Karlshof von Licht, Fröhlichkeit und Geist durchdrungen zu sein; ein beständiges Wachsen und Gedeihen, in dem es sich trotz der gelegentlich stinkigen Luft der Schwefelquellen so frei atmen ließ, wie es ihr im guten Klima nahe dem Bodensee nicht möglich war.
Aus Sehnsucht nach ihrem alten Leben wollte Judith den Gerüchten über betrübliche Veränderungen nach Kaiser Karls Tod am angeblich freudlosen Hof Kaiser Ludwigs keinen Glauben schenken. Sie träumte unentwegt von einer Rückkehr.
Genau deshalb hatte sie sich den Heiratsplänen ihres Vaters widersetzt. Denn nach vier Jahren im Elternhaus wusste Judith ganz genau, was sie nicht wollte. Sie erschauerte bei dem Gedanken, ein Leben wie ihre Mutter führen zu müssen, und das wäre zweifellos der Fall gewesen, hätte sie einen ihrer zahlreichen Bewerber in Betracht gezogen. Heilwig war unablässig mit Angelegenheiten beschäftigt, denen Judith nicht die geringste Freude abgewinnen konnte. So gern sie Wein trank und Wildbret aß, so wenig interessierte sie sich für den Zustand der Reben oder den des Küchenhauses. Sie würde Auseinandersetzungen zwischen Mägden schlichten und abends über Abrechnungen oder feiner Handarbeit sitzen müssen, anstatt aus Briefen der Gelehrten zu lernen, mit klugen Köpfen über Politik zu reden oder in anregender Gesellschaft das Psalterium zu zupfen und an geistreichen Ratespielen teilzunehmen. Es grauste ihr bei der Vorstellung, dass ihr Leben nach einem klar umrissenen Plan ablaufen würde, den sie zu erfüllen hatte und an dem sie selbst nie etwas würde ändern können. Sie würde einen Sohn nach dem anderen gebären und ihre Töchter auf das gleiche farblose Leben vorbereiten müssen, das man ihr jetzt als so erstrebenswert ausmalte. Entscheidungen über Haus und Hof würde sie nur dann eigenständig fällen können, wenn ihr Gemahl in höherem Auftrag unterwegs war, in den Krieg zog oder starb. Und das viele Wissen, mit dem sie ihren Kopf an Karls Hof gefüllt hatte, würde sie dabei kaum einbringen können.
Sie wusste, dass ihr Vater es für einen Fehler hielt, sie nicht früher vom Kaiserhof geholt zu haben. Nach seiner Ansicht war der Unterricht an der Hofschule für Mädchen gänzlich ungeeignet. Der Umgang mit den zügellosen unverheirateten Töchtern des alten Kaisers sowie die seltsame Erziehung seiner Schwägerin Gerswind hätten seine Tochter für ein vernünftiges Leben verdorben, meinte er. Wenn sie schon nicht einem Mann dienen wolle, dann eben dem Herrn im Himmel, hatte er einige Wochen zuvor übellaunig erklärt und sich auf Anraten seiner Gemahlin Heilwig im Kloster Chelles nach den Aufnahmebedingungen erkundigt. Heilwig fühlte sich diesem Kloster sehr verbunden, da es ihre heidnische Mutter Geva aufgenommen und sie vor deren Tod im vergangenen Sommer zur gläubigen Christin bekehrt hatte. Wem es gelungen war, den Willen dieser verbitterten alten Sächsin zu brechen, der würde auch seiner Tochter die Flausen austreiben können, hatte ihr Vater gehofft.
Nun, jetzt war in Altdorf keine Botschaft aus Chelles eingetroffen, sondern eine aus Aachen.
Der Kaiser suchte eine Braut.
Judith fuhr erschrocken auf. Mit dem nächsten Donnerschlag drang erst wirklich zu ihr durch, weshalb sie nach Aachen reisen sollte. Bisher hatte sie ausschließlich daran gedacht, wieder in die
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