Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier
einfach weiter, rammte ihm ihre Schulter in den Bauch und sah ihn wie eine Marionette mit zerrissenen Fäden zusammenklappen. Sie sprang über seine zuschnappenden Hände hinweg, entwand sich dem Griff eines anderen Mannes und erreichte zwei Schritte weiter die Hafenmauer. Ohne zu zögern, stieß sie sich ab und sprang.
Sie prallte mit beiden Füßen auf die Wellen, ohne zu versinken. Jolly stolperte und konnte sich erst im letzten Augenblick fangen. Was war das? Quappen liefen doch nur auf Salzwasser. Dies hier aber war ein See! Sie hatte angenommen, wie alle anderen im Wasser unterzutauchen und so inmitten des Tumults unbemerkt nach dem Wurm suchen zu können. Offenbar aber floss durch den Zugang zum Meer genug Salzwasser in den See, um eine Quappe zu tragen.
Dann mach das Beste daraus!, durchfuhr es sie. Los!
So schnell sie konnte, sprintete sie vorwärts. Die Oberfläche schien zu kochen von all dem Aufruhr, dem Sog der sinkenden Schiffe und den Unmengen von Luftblasen, die aus den Wracks emporsprudelten. Überall waren Menschen im Wasser, manche panisch planschend wie Kinder. Andere griffen gezielt nach ihr, als ahnten sie, dass die Quappe, die da an ihnen vorüberrannte, auf irgendeine Weise mit dieser Katastrophe zu tun hatte.
Hinter ihr ertönte ein Pfeifen. War das ein Alarmsignal? Oder versuchte der Geisterhändler, die Seepferde herbeizurufen?
Jolly blickte sich nicht um. Sie wollte nicht sehen, ob Bannon den Befehl gab, mit Pistolen und Büchsen auf sie anzulegen. Und falls er es nicht tat, falls er sich trotz allem erinnerte, wie wichtig sie ihm noch vor wenigen Wochen gewesen war - nun, umso besser.
Rauch biss in ihre Nase und in ihre Kehle. Auf mindestens zwei der sinkenden Schiffe waren Brände ausgebrochen. Ehe das Wasser sich über dem Feuer schloss und die Flammen löschen konnte, griff es bereits auf Masten und Segel über. Funkenflug und abgerissene Tuchfetzen trugen die Glut in alle Richtungen. Bald brannten auch zwei benachbarte Schiffe, die bis dahin unversehrt an ihren Ankerplätzen gelegen hatten.
Schüsse peitschten. Ob auf Bannons Anweisung oder aus anderen Richtungen, erkannte Jolly nicht. Sie hoffte nur, dass ihre Freunde nicht entdeckt worden waren. Vor ihr flutete das Wasser über das Deck eines sinkenden Schiffes, und sie musste einen scharfen Haken schlagen, um nicht in den Sog des Wracks zu geraten. Unter ihr entstand eine kraftvolle Strömung, und einen Augenblick lang rannte sie vergeblich gegen die tosenden Wogen an. Dann aber erreichte sie eine breite Gasse zwischen zwei unversehrten Schiffen, die ihr Deckung vor den Schützen am Ufer boten. Ihr Ziel war eine Schaluppe, etwa fünfzig Schritt vom Kai entfernt, die als eines der letzten Schiffe zu sinken begonnen hatte. Sie hoffte, den Wurm irgendwo in der Nähe zu finden. Ihr Vorteil gegenüber den Piraten und Eingeborenen war, dass sie sich auf der Wasseroberfläche schneller bewegen konnte.
Neben ihr ertönte ein dumpfer Laut, und plötzlich ragte ein gefiederter Speer rechts von ihr aus der Bordwand. Auf dem Schiff zu ihrer Linken tauchten mehrere Kannibalen auf, nicht in der Kluft der Seeleute, sondern in Lendenschurzen und seltsamen Bändern, die sie sich um Arme, Beine und Bauch gewickelt hatten.
Ein zweiter Speer verfehlte sie. Ein dritter klatschte neben ihr ins Wasser, streifte ihr Bein aber nur mit dem Schaft. Dann war sie auch schon zwischen den beiden Rümpfen hindurch und näherte sich auf einem Zickzackweg jenen Schiffen, bei denen sie den Holzwurm vermutete.
»Wurm!«, brüllte sie über das Wasser. Sie konnte jetzt nicht mehr weiter als zehn Schritt sehen, weil der Rauch den gesamten Hafen vernebelte. Immerhin schützte sie das auch vor den Männern am Ufer.
»Wurm!«, rief sie erneut und blickte sich um.
Neben ihr neigte sich ein Schiff nach Backbord. Es gelang ihr gerade noch, aus der Reichweite der kippenden Masten zu springen. Wieder und wieder rief sie nach dem Hexhermetischen Holzwurm und musste zugleich einem weiteren Hagel von Speeren ausweichen, der von einem anderen Schiff heransauste. Von irgendwo her eröffnete jetzt auch ein Pistolenschütze das Feuer, doch nach zwei Schüssen gab er auf. Ab und an sah sie noch Männer im Wasser, doch je weiter sie sich vom Ufer entfernte, desto weniger wurden es.
»Wurm! Verdammt, wo steckst du?«
Allmählich wurde ihr bewusst, wie wahnwitzig ihr Vorhaben war. Wie sollte sie den winzigen Kerl hier draußen finden, irgendwo im Wasser, zwischen den
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