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Die Tote

Die Tote

Titel: Die Tote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion
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EINS
    Die Räder des Koffers ratterten über das Pflaster. Wenn sie sich beeilte, würde sie den Zug noch erwischen. Sie beschleunigte ihre Schritte. Dass ihre Tochter aber auch immer alles auf die letzte Minute organisieren musste. Sie war schließlich nicht mehr die Jüngste. Als ob ihr das so leichtfiele, in aller Herrgottsfrühe die Koffer zu packen und zum Bahnhof zu hetzen. Na wenigstens regnete es nicht.
    Das war ja schon fast ein Geschenk, wenn man an das Wetter der letzten Tage dachte. Es hatte nur geschüttet, und die Straße war immer noch feucht, obwohl die Nacht doch trocken gewesen war. Sie sah auf die Uhr. Nur noch knapp fünfzehn Minuten, aber sie war schon fast am Kröpcke. Das war wirklich eine gute Idee gewesen, in die Innenstadt zu ziehen. Da war sie nah an allem dran, vor allem am Bahnhof. Konnte von hier aus gleich nach Berlin fahren, und musste nicht mal umsteigen.
    Wenn sie denn nach Berlin fahren wollte, dazu kam sie ja gar nicht, und wenn sie ehrlich war, machte ihr so eine riesige Stadt auch Angst. Früher, als Leopold noch gelebt hatte, da hatten sie manche Reise unternommen, sogar bis nach Südtirol waren sie gefahren, allerdings mit dem Bus.
    Sie überquerte den Opernplatz und warf einen flüchtigen Blick in die Auslagen von Peek & Cloppenburg. Die Stadt war noch leer, nur einer von diesen Pennern kam gerade die Treppe der Passerelle, oder wie die jetzt hieß, herauf. Und – Gerlinde Vormbeck blieb einen Moment stehen und kniff die kleinen grauen Augen zusammen – an der Kröpcke-Uhr saß jemand und schlief. War das etwa eine Frau? Meine Güte, wie tief konnte man sinken.
    Gerlinde beschloss einen großen Bogen um die Kröpcke-Uhr zu machen. Am Ende hatte die noch irgendeine ansteckende Krankheit, und das fehlte ihr ja gerade noch, wo sie doch ihren Enkelsohn hüten sollte. Eine ganze Woche lang. Katjas Tagesmutter war krank geworden.
    Tja, als Gerlinde noch jung war, war das alles einfacher gewesen. Da wohnten Oma und Opa noch mit im Haus und konnten gut mal auf die Kinder aufpassen. Aber wenn sie ehrlich war, das war auch nicht immer das Gelbe vom Ei gewesen. Gerlinde ratterte an der Uhr vorbei und warf der Frau einen scheuen Blick zu.
    Du lieber Gott, das war ja noch ein halbes Kind, und bewegt hatte sie sich auch noch nicht. Ob die irgendwas genommen hatte? Drogen oder was? Und was hatte die für’n komischen Umhang um? Das sah ja aus wie ein Badetuch, und das bei diesen Temperaturen. Na gut, es war Frühling, und sie selbst war vielleicht ein bisschen empfindlich, aber es waren doch höchstens fünfzehn Grad.
    Gerlinde wurde unsicher. Ob die Hilfe brauchte? Sie sah sich um. War denn kein Mensch unterwegs, der sich darum kümmern konnte? Nein, aber es war ja gerade mal halb sechs. Gerlinde brummte ärgerlich und blieb unschlüssig stehen. Man konnte sie einfach wecken und dann verschwinden. Sie ließ ihren Koffer fallen, war keiner da, der ihn klauen konnte, und ging bis auf drei Meter zu dem Häuflein Mensch, das bewegungslos vor der Kröpcke-Uhr hockte, hinüber.
    »Hallo!«, rief sie aus sicherer Entfernung. »Brauchen Sie Hilfe?«
    Keine Reaktion. Das war wirklich ein Badetuch. Ein großes rosa Badetuch, das das Häuflein fast vollständig verdeckte. Nur ein kleines Gesicht mit strähnigem dunklem Haar war zu sehen. Die Augen waren geschlossen. Menschenskind, dachte Gerlinde, das Mädchen konnte höchstens sechzehn oder siebzehn sein. Und sie vertrödelte hier ihre Zeit. Sie ging auf das Kind zu und stupste an seine Schulter.
    »Hallo, was …« Gerlinde kam nicht mehr dazu, ihre Frage auszuformulieren, denn das Häuflein kippte sachte zur Seite.
    Zum Vorschein kamen nackte Füße mit schmutzigen Sohlen. Gerlinde legte erschrocken die Hände an die Wangen, blickte auf das reglose Bündel Mensch. Sah sich dann noch mal um und kam zu dem Schluss, dass es angebracht wäre, um Hilfe zu rufen.
    Und das tat sie dann auch.
    In der Wohnung im dritten Stock der Hausnummer 14a in der Gretchenstraße im hannoverschen Stadtteil List herrschte tiefer Friede. Aus dem geräumigen Schlafzimmer drangen gleichmäßige Atemzüge, die nur teilweise geschlossenen Jalousien malten ein Streifenmuster aus Licht an die Wand. Eine antike Standuhr aus Rosenholz, der ganze Stolz der weiblichen Bewohnerin, nährte diesen Frieden vom gegenüberliegenden Wohnzimmer aus mit unermüdlichem freundlichem Ticken, das durch die geöffneten Türen ins Schlafzimmer drang und eine fast hypnotische Wirkung auf die

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