Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier
langen Stunden waren angefüllt mit Warten und Nichtstun. Fast war Jolly erleichtert gewesen, als auch am zweiten und dritten Tag keine Spur der Carfax am Horizont auftauchte. Es sah immer mehr danach aus, dass die Freunde ohne sie den Weg in die Seesternstadt Aelenium fortgesetzt hatten. Sollten sie doch, dachte Jolly patzig. Auch wenn sie eine Quappe war - sie riss sich ganz bestimmt nicht darum, dem Mahlstrom entgegenzutreten. Sie wollte einfach nur an Bord des nächsten Versorgungsschiffes gehen, um endlich wieder zu ihrem alten Leben als Pirat zurückzukehren.
»Da seid ihr ja!«, rief Agostini, als sie das Labyrinth der Felsspalten verließen und die Klippen erreichten.
Der Brückenbaumeister kam ihnen mit großen Schritten entgegen, fuchtelte umständlich mit den langen Armen, gab Arbeitern, an denen er vorbeikam, Befehle, ließ sich eine Papierrolle reichen, begutachtete sie, gab sie wieder zurück, spuckte Kautabak aus, biss in eine Banane und rückte seinen breiten Hut zurecht - und das alles, ohne langsamer zu werden.
Agostini tat stets mindestens drei Dinge auf einmal. Und das nicht etwa, weil er keine Zeit hatte. Es lag wohl in seiner Natur, immerzu irgendetwas zu tun, zu sagen, sich zu bewegen, neue Pläne zu entwerfen oder alte zu überarbeiten. Der Mann wimmelte regelrecht, als hätte ein Ameisenhaufen menschliche Gestalt angenommen.
Heute wollte er Jolly und Griffin zum ersten Mal mit auf die unfertige Brücke nehmen.
Er drehte sich auf den Fersen um, als er die beiden erreichte, und lief neben ihnen her zurück zum Klippenrand, über eine Fläche aus porösem aschgrauem Fels, der mit Zelten, Werkstätten und dunkelhäutigen Menschen übersät war. Ein dutzend Eingeborene von den unterschiedlichsten Inseln arbeiteten für ihn.
Agostini hatte langes wehendes Haar und trug etwas, das gleichermaßen aus einer zerschlissenen spanischen Uniform, einer englischen Kapitänskluft und der Tracht französischer Farmer zusammengewürfelt war. Hauptsache, es erfüllte seinen Zweck. Das zerzauste graue Haar wallte unter seinem Schlapphut hervor und unterschied sich kaum von den verblichenen, schlaffen Federn, die unter dem roten Hutband steckten.
Ein Pulk von Brückenbauern wich plappernd auseinander, als Agostini in Begleitung der beiden die Baustelle erreichte.
Der Baumeister verharrte neben Jolly und Griffin und stand zum ersten Mal für einen Augenblick still. Er atmete tief durch. Jolly folgte seinem Blick zu der spektakulären Holzkonstruktion, die sich vom Rand der Lavafelsen bis in die Ferne erstreckte.
Als sie und Griffin die Brücke zum ersten Mal gesehen hatten, hatten sie kaum ihren Augen getraut. Über einen Meeresarm spannte sie sich zur nächsten Insel. Sie war noch nicht fertig gestellt, aber der Anblick des gigantischen Bauwerkes verschlug schon jetzt jedem Betrachter den Atem.
Agostinis Brücke war in der Tat erstaunlich: zweihundert Schritt lang, zehn Schritt breit; hoch über dem Wasser gewölbt wie eine Sichel, aber ohne eine einzige Säule, die sie stützte; vollkommen schmucklos, nur auf Zweckmäßigkeit hin entworfen und dabei doch von einer Eleganz, die die Brücke selbst zu einem Schmuckstück machte.
Sie bestand aus einem filigranen Gitterwerk von Planken und Brettern, das in den nächsten Wochen noch abgedeckt werden musste. Bis dahin balancierten die Arbeiter wie Seiltänzer über die Holzstreben, stets nur einen Schritt vom Abgrund entfernt. Auf beiden Seiten mündete die Brücke in Klippen hoch über dem Wasser. Bis zur Meeresoberfläche waren es an der höchsten Stelle der Brückenwölbung gut zwanzig Mannslängen.
Es war Größenwahnsinn, eindeutig. Was brachte einen Menschen dazu, ein solches Bauwerk mitten im Nichts zu errichten? Wer sollte die Brücke benutzen, wenn sie vollendet war? Warum wurde mit einem derartigen Aufwand eine Verbindung zwischen zwei öden Inseln geschaffen, die weitab aller Handelsrouten lagen, fern jeder Zivilisation? Agostini war ihnen die Antwort auf all diese Fragen schuldig geblieben.
Jolly vermutete, dass er schlichtweg verrückt war. Allerdings hatte der Baumeister sie und Griffin aufgenommen und mit allem Nötigen versorgt. Ehe sie von der Insel herunterkamen, waren sie auf seine Hilfe angewiesen, so wenig es ihr auch passte, auf diesem trostlosen Eiland festzusitzen.
Der Wind fauchte ihnen entgegen, als sie den festen Boden verließen und auf das Holz der Brücke traten.
»Seit heute Morgen ist sie komplett«, erklärte Agostini.
Weitere Kostenlose Bücher