Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
ein dem Ganzen untergeordnetes, aber doch auch eigenthümliches Leben, vita propria , hat: daß nun alle diese Theile gerade auf die gehörige Weise dem Ganzen untergeordnet und einander nebengeordnet seien, harmonisch zur Darstellung des Ganzen konspiriren, nichts übermäßig, nichts verkümmert sei; – dies Alles sind die seltenen Bedingungen, deren Resultat die Schönheit, der vollkommen ausgeprägte Gattungscharakter ist. – So die Natur. Wie aber die Kunst? – Man meint, durch Nachahmung der Natur. – Woran soll aber der Künstler ihr gelungenes und nachzuahmendes Werk erkennen und es unter den mißlungenen herausfinden; wenn er nicht vor der Erfahrung das Schöne anticipirt? Hat überdies auch jemals die Natur einen in allen Theilen vollkommen schönen Menschen hervorgebracht? – Da hat man gemeint, der Künstler müsse die an viele Menschen einzeln vertheilten schönen Theile zusammensuchen und aus ihnen ein schönes Ganzes zusammensetzen: eine verkehrte und besinnungslose Meinung. Denn es fragt sich abermals, woran soll er erkennen, daß gerade diese Formen die schönen sind und jene nicht? – Auch sehn wir, wie weit in der Schönheit die alten deutschen Maler durch Nachahmung der Natur gekommen sind. Man betrachte ihre nackten Figuren, – Rein a posteriori und aus bloßer Erfahrung ist gar keine Erkenntniß des Schönen möglich: sie ist immer, wenigstens zum Theil, a priori , wiewohl von ganz anderer Art, als die uns a priori bewußten Gestaltungen des Satzes vom Grunde. Diese betreffen die allgemeine Form der Erscheinung als solcher, wie sie die Möglichkeit der Erkenntniß überhaupt begründet, das allgemeine, ausnahmslose Wie des Erscheinens, und aus dieser Erkenntniß geht Mathematik und reine Naturwissenschaft hervor: jene andere Erkenntnißart a priori hingegen, welche die Darstellung des Schönen möglich macht, betrifft, statt der Form, den Inhalt der Erscheinungen, statt des Wie , das Was des Erscheinens. Daß wir Alle die menschliche Schönheit erkennen, wenn wir sie sehn, im ächten Künstler aber dies mit solcher Klarheit geschieht, daß er sie zeigt, wie er sie nie gesehn hat, und die Natur in seiner Darstellung übertrifft; dies ist nur dadurch möglich, daß der Wille, dessen adäquate Objektivation, auf ihrer höchsten Stufe, hier beurtheilt und gefunden werden soll, ja wir selbst sind. Dadurch allein haben wir in der That eine Anticipation Dessen, was die Natur (die ja eben der Wille ist, der unser eigenes Wesen ausmacht) darzustellen sich bemüht; welche Anticipation im ächten Genius von dem Grade der Besonnenheit begleitet ist, daß er, indem er im einzelnen Dinge dessen Idee erkennt, gleichsam die Natur auf halbem Worte versteht und nun rein ausspricht, was sie nur stammelt, daß er die Schönheit der Form, welche ihr in tausend Versuchen mißlingt, dem harten Marmor aufdrückt, sie der Natur gegenüberstellt, ihr gleichsam zurufend: »Das war es, was du sagen wolltest!« und »Ja, Das war es!« hallt es aus dem Kenner wider. – Nur so konnte der geniale Grieche den Urtypus der menschlichen Gestalt finden und ihn als Kanon der Schule der Skulptur aufstellen; und auch allein vermöge einer solchen Anticipation ist es uns Allen möglich, das Schöne da, wo es der Natur im Einzelnen wirklich gelungen ist, zu erkennen. Diese Anticipation ist das Ideal : es ist die Idee , sofern sie, wenigstens zur Hälfte, a priori erkannt ist und, indem sie als solche dem a posteriori durch die Natur Gegebenen ergänzend entgegenkommt, für die Kunst praktisch wird. Die Möglichkeit solcher Anticipation des Schönen a priori im Künstler, wie seiner Anerkennung a posteriori im Kenner, liegt darin, daß Künstler und Kenner das Ansich der Natur, der sich objektivirende Wille, selbst sind. Denn nur vom Gleichen, wie Empedokles sagte, wird das Gleiche erkannt: nur Natur kann sich selbst verstehn; nur Natur wird sich selbst ergründen; aber auch nur vom Geist wird der Geist vernommen. 63
Die verkehrte, wiewohl vom Xenophontischen Sokrates ausgesprochene Meinung (Stobaei Floril. Vol. 2, p. 384) , daß die Griechen das aufgestellte Ideal menschlicher Schönheit ganz empirisch, durch Zusammenlesen einzelner schöner Theile, hier ein Knie, dort einen Arm entblößend und merkend, aufgefunden hätten, hat übrigens eine ihr ganz analoge im Betreff der Dichtkunst, nämlich die Annahme, daß z.B. Shakespeare die unzählig mannigfaltigen, so wahren, so gehaltenen, so aus der Tiefe herausgearbeiteten
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