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Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Titel: Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schopenhauer
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Charaktere in seinen Dramen, aus seiner eigenen Erfahrung im Weltleben sich gemerkt und dann wiedergegeben hätte. Die Unmöglichkeit und Absurdität solcher Annahme bedarf keiner Auseinandersetzung: es ist offenbar, daß der Genius, wie er die Werke der bildenden Kunst nur durch eine ahndende Anticipation des Schönen hervorbringt, so die Werke der Dichtkunst nur durch eine eben solche Anticipation des Charakteristischen; wenn gleich beide der Erfahrung bedürfen, als eines Schemas, woran allein jenes ihnen a priori dunkel Bewußte zur vollen Deutlichkeit hervorgerufen wird und die Möglichkeit besonnener Darstellung nunmehr eintritt.
    Menschliche Schönheit wurde oben erklärt als die vollkommenste Objektivation des Willens auf der höchsten Stufe seiner Erkennbarkeit. Sie drückt sich aus durch die Form: und diese liegt im Raum allein und hat keine nothwendige Beziehung auf die Zeit, wie z.B. die Bewegung eine hat. Wir können insofern sagen: die adäquate Objektivation des Willens durch eine bloß räumliche Erscheinung ist Schönheit, im objektiven Sinn. Die Pflanze ist keine andere, als eine solche bloß räumliche Erscheinung des Willens; da keine Bewegung und folglich keine Beziehung auf die Zeit (abgesehn von ihrer Entwickelung) zum Ausdruck ihres Wesens gehört: ihre bloße Gestalt spricht ihr ganzes Wesen aus und legt es offen dar. Thier und Mensch aber bedürfen zur vollständigen Offenbarung des in ihnen erscheinenden Willens noch einer Reihe von Handlungen, wodurch jene Erscheinung in ihnen eine unmittelbare Beziehung auf die Zeit erhält. Dies Alles ist schon im vorigen Buch erörtert worden: an unsere gegenwärtige Betrachtung knüpft es sich durch Folgendes. Wie die bloß räumliche Erscheinung des Willens diesen auf jeder bestimmten Stufe vollkommen oder unvollkommen objektiviren kann, was eben Schönheit oder Häßlichkeit ausmacht; so kann auch die zeitliche Objektivation des Willens, d.i. die Handlung und zwar die unmittelbare, also die Bewegung, dem Willen, der sich in ihr objektivirt, rein und vollkommen entsprechen, ohne fremde Beimischung, ohne Ueberflüssiges, ohne Ermangelndes, nur gerade den bestimmten jedesmaligen Willensakt ausdrückend; – – oder auch dies Alles sich umgekehrt verhalten. Im ersten Fall geschieht die Bewegung mit Grazie ; im andern ohne solche. Wie also Schönheit die entsprechende Darstellung des Willens überhaupt durch seine bloß räumliche Erscheinung ist; so ist Grazie die entsprechende Darstellung des Willens durch seine zeitliche Erscheinung, d.h. der vollkommen richtige und angemessene Ausdruck jedes Willensaktes, durch die ihn objektivirende Bewegung und Stellung. Da Bewegung und Stellung den Leib schon voraussetzen; so ist Winckelmanns Ausdruck sehr richtig und treffend, wenn er sagt: »Die Grazie ist das eigenthümliche Verhältniß der handelnden Person zur Handlung.« (Werke, Bd. I, S. 258.) Es ergiebt sich von selbst, daß Pflanzen zwar Schönheit, aber keine Grazie beigelegt werden kann, es sei denn im figürlichen Sinn; Thieren und Menschen aber Beides, Schönheit und Grazie. Die Grazie besteht, dem Gesagten zufolge, darin, daß jede Bewegung und Stellung auf die leichteste, angemessenste und bequemste Art ausgeführt werde und sonach der rein entsprechende Ausdruck ihrer Absicht, oder des Willensaktes sei, ohne Ueberflüssiges, was als zweckwidriges, bedeutungsloses Handtieren oder verdrehte Stellung, ohne Ermangelndes, was als hölzerne Steifheit sich darstellt. Die Grazie setzt ein richtiges Ebenmaaß aller Glieder, einen regelrechten, harmonischen Körperbau, als ihre Bedingung, voraus; da nur mittelst dieser die vollkommene Leichtigkeit und augenscheinliche Zweckmäßigkeit in allen Stellungen und Bewegungen möglich ist: also ist die Grazie nie ohne einen gewissen Grad der Schönheit des Körpers. Beide vollkommen und im Verein sind die deutlichste Erscheinung des Willens auf der obersten Stufe seiner Objektivation.
    Es gehört, wie oben erwähnt, zum Auszeichnenden der Menschheit, daß bei ihr der Charakter der Gattung und der des Individuums auseinandertreten, so daß, wie im vorigen Buch gesagt, jeder Mensch gewissermaaßen eine ganz eigenthümliche Idee darstellt. Die Künste daher, deren Zweck die Darstellung der Idee der Menschheit ist, haben neben der Schönheit, als dem Charakter der Gattung, noch den Charakter des Individuums, welcher vorzugsweise Charakter genannt wird, zur Aufgabe; diesen jedoch auch nur wieder, sofern er nicht als

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