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Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Titel: Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schopenhauer
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durch jenen Vers ausgesprochen.
    Die lebendige Erkenntniß der ewigen Gerechtigkeit, des Waagebalkens, der das malum culpae mit dem malo poenae unzertrennlich verbindet, erfordert gänzliche Erhebung über die Individualität und das Princip ihrer Möglichkeit: sie wird daher, wie auch die ihr verwandte und sogleich zu erörternde reine und deutliche Erkenntniß des Wesens aller Tugend, der Mehrzahl der Menschen stets unzugänglich bleiben. – Daher haben die weisen Urväter des Indischen Volkes sie zwar in den, den drei wiedergeborenen Kasten allein erlaubten Veden, oder in der esoterischen Weisheitslehre, direkt, so weit nämlich Begriff und Sprache es fassen und ihre immer noch bildliche, auch rhapsodische Darstellungsweise es zuläßt, ausgesprochen; aber in der Volksreligion, oder exoterischen Lehre, nur mythisch mitgetheilt. Die direkte Darstellung finden wir in den Veden, der Frucht der höchsten menschlichen Erkenntniß und Weisheit, deren Kern in den Upanischaden uns, als das größte Geschenk dieses Jahrhunderts, endlich zugekommen ist, auf mancherlei Weise ausgedrückt, besonders aber dadurch, daß vor den Blick des Lehrlings alle Wesen der Welt, lebende und leblose, der Reihe nach vorübergeführt werden und über jedes derselben jenes zur Formel gewordene und als solche die Mahavakya genannte Wort ausgesprochen wird: Tatoumes , richtiger tat twam asi , welches heißt: »Dies bist du«. 89 – Dem Volke aber wurde jene große Wahrheit, so weit es, in seiner Beschränktheit, sie fassen konnte, in die Erkenntnißweise, welche dem Satz vom Grunde folgt, übersetzt, die zwar, ihrem Wesen nach, jene Wahrheit rein und an sich durchaus nicht aufnehmen kann, sogar im geraden Widerspruch mit ihr steht, allein in der Form des Mythos ein Surrogat derselben empfieng, welches als Regulativ für das Handeln hinreichend war, indem es die ethische Bedeutung desselben, in der dieser selbst ewig fremden Erkenntnißweise gemäß dem Satz vom Grunde, doch durch bildliche Darstellung faßlich macht; welches der Zweck aller Glaubenslehren ist, indem sie sämmtlich mythische Einkleidungen der dem rohen Menschensinn unzugänglichen Wahrheit sind. Auch könnte in diesem Sinne jener Mythos, in Kants Sprache, ein Postulat der praktischen Vernunft genannt werden: als ein solches betrachtet aber hat er den großen Vorzug, gar keine Elemente zu enthalten, als die im Reiche der Wirklichkeit vor unsern Augen liegen, und daher alle seine Begriffe mit Anschauungen belegen zu können. Das hier Gemeinte ist der Mythos von der Seelenwanderung. Er lehrt, daß alle Leiden, welche man im Leben über andere Wesen verhängt, in einem folgenden Leben auf eben dieser Welt, genau durch die selben Leiden wieder abgebüßt werden müssen; welches so weit geht, daß wer nur ein Thier tödtet, einst in der unendlichen Zelt auch als eben ein solches Thier geboren werden und den selben Tod erleiden wird. Er lehrt, daß böser Wandel ein künftiges Leben, auf dieser Welt, in leidenden und verachteten Wesen nach sich zieht, daß man demgemäß sodann wieder geboren wird In niedrigeren Kasten, oder als Weib, oder als Thier, als Paria oder Tschandala, als Aussätziger, als Krokodil u.s.w. Alle Quaalen, die der Mythos droht, belegt er mit Anschauungen aus der wirklichen Welt, durch leidende Wesen, welche auch nicht wissen, wie sie ihre Quaal verschuldet haben, und er braucht keine andere Hölle zu Hülfe zu nehmen. Als Belohnung aber verheißt er dagegen Wiedergeburt in besseren, edleren Gestalten, als Brahmane, als Weiser, als Heiliger. Die höchste Belohnung, welche der edelsten Thaten und der völligen Resignation wartet, welche auch dem Weibe wird, das in sieben Leben hinter einander freiwillig auf dem Scheiterhaufen des Gatten starb, nicht weniger auch dem Menschen, dessen reiner Mund nie eine einzige Lüge gesprochen hat, diese Belohnung kann der Mythos in der Sprache dieser Welt nur negativ ausdrücken, durch die so oft vorkommende Verheißung, gar nicht mehr wiedergeboren zu werden: non adsumes iterum existentiam apparentem : oder wie die Buddhaisten, welche weder Veda noch Kasten gelten lassen, es ausdrücken: »Du sollst Nirwana erlangen, d.i. einen Zustand, in welchem es vier Dinge nicht giebt: Geburt, Alter, Krankheit und Tod.«
    Nie hat ein Mythos und nie wird einer sich der so Wenigen zugänglichen, philosophischen Wahrheit enger anschließen, als diese uralte Lehre des edelsten und ältesten Volkes, bei welchem sie, so entartet es auch jetzt in

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