Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
vielen Stücken ist, doch noch als allgemeiner Volksglaube herrscht und auf das Leben entschiedenen Einfluß hat, heute so gut, wie vor vier Jahrtausenden. Jenes non plus ultra mythischer Darstellung haben daher schon Pythagoras und Plato mit Bewunderung aufgefaßt, von Indien, oder Aegypten, herübergenommen, verehrt, angewandt und, wir wissen nicht wie weit, selbst geglaubt. – Wir hingegen schicken nunmehr den Brahmanen Englische clergymen und Herrnhuterische Leinweber, um sie aus Mitleid eines bessern zu belehren und ihnen zu bedeuten, daß sie aus Nichts gemacht sind und sich dankbarlich darüber freuen sollen. Aber uns widerfährt was Dem, der eine Kugel gegen einen Felsen abschießt. In Indien fassen unsere Religionen nie und nimmermehr Wurzel: die Urweisheit des Menschengeschlechts wird nicht von den Begebenheiten in Galiläa verdrängt werden. Hingegen ströhmt Indische Weisheit nach Europa zurück und wird eine Grundveränderung in unserm Wissen und Denken hervorbringen.
§ 64
Aber von unserer nicht mythischen, sondern philosophischen Darstellung der ewigen Gerechtigkeit wollen wir jetzt zu den dieser verwandten Betrachtungen der ethischen Bedeutsamkeit des Handelns und des Gewissens, welches die bloß gefühlte Erkenntniß jener ist, fortschreiten. – Nur will ich, an dieser Stelle, zuvor noch auf zwei Eigenthümlichkeiten der menschlichen Natur aufmerksam machen, welche beitragen können zu verdeutlichen, wie einem Jeden das Wesen jener ewigen Gerechtigkeit und die Einheit und Identität des Willens in allen seinen Erscheinungen, worauf jene beruht, wenigstens als dunkles Gefühl bewußt ist.
Ganz unabhängig von dem nachgewiesenen Zwecke des Staates, bei der Strafe, der das Strafrecht begründet, gewährt es, nachdem eine böse That geschehn, nicht nur dem Gekränkten, den meistens Rachsucht beseelt, sondern auch dem ganz antheilslosen Zuschauer Befriedigung, zu sehn, daß Der, welcher einem Andern einen Schmerz verursachte, gerade das selbe Maaß des Schmerzes wieder erleide. Mir scheint sich hierin nichts Anderes, als eben das Bewußtseyn jener ewigen Gerechtigkeit auszusprechen, welches aber von dem ungeläuterten Sinn sogleich mißverstanden und verfälscht wird, indem er, im principio individuationis befangen, eine Amphibolie der Begriffe begeht und von der Erscheinung Das verlangt, was nur dem Dinge an sich zukommt, nicht einsieht, inwiefern an sich der Beleidiger und der Beleidigte Eines sind und das selbe Wesen es ist, was, in seiner eigenen Erscheinung sich selbst nicht wiedererkennend, sowohl die Quaal als die Schuld trägt; sondern vielmehr verlangt, am nämlichen Individuo, dessen die Schuld ist, auch die Quaal wiederzusehn. – Daher möchten die Meisten auch fordern, daß ein Mensch, der einen sehr hohen Grad von Bosheit hat, welcher jedoch sich wohl in Vielen, nur nicht mit andern Eigenschaften wie in ihm gepaart, finden möchte, der nämlich dabei durch ungewöhnliche Geisteskraft Andern weit überlegen wäre und welcher demzufolge nun unsägliche Leiden über Millionen Andere verhienge, z.B. als Welteroberer, – sie würden fordern, sage ich, daß ein solcher alle jene Leiden irgendwann und irgendwo durch ein gleiches Maaß von Schmerzen abbüßte; weil sie nicht erkennen, wie an sich der Quäler und die Gequälten Eines sind und der selbe Wille, durch welchen diese dasind und leben, es eben auch ist, der in jenem erscheint und gerade durch ihn zur deutlichsten Offenbarung seines Wesens gelangt, und der ebenfalls wie in den Unterdrückten, so auch im Ueberwältiger leidet, und zwar in diesem in dem Maaße mehr, als das Bewußtseyn höhere Klarheit und Deutlichkeit und der Wille größere Vehemenz hat, – Daß aber die tiefere, im principio individuationis nicht mehr befangene Erkenntniß, aus welcher alle Tugend und Edelmuth hervorgehn, jene Vergeltung fordernde Gesinnung nicht mehr hegt, bezeugt schon die Christliche Ethik, welche alle Vergeltung des Bösen mit Bösem schlechthin untersagt und die ewige Gerechtigkeit als in dem von der Erscheinung verschiedenen Gebiet des Dinges an sich walten läßt. (»Die Rache ist mein, Ich will vergelten, spricht der Herr.« Röm. 12, 19.)
Ein viel auffallenderer, aber auch viel seltenerer Zug in der menschlichen Natur, welcher jenes Verlangen, die ewige Gerechtigkeit in das Gebiet der Erfahrung, d.i. der Individuation, zu ziehn, ausspricht, und dabei zugleich ein gefühltes Bewußtseyn andeutet, daß, wie ich es oben ausdrückte, der
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