1WTC
Prolog
Luftaufnahme. Helikoptergeräusch.
Im Vordergrund die Freiheitsstatue, im Hintergrund die Südspitze von Manhattan. Der Hubschrauber fliegt Richtung Brooklyn Bridge, dreht dann nach Norden zum Financial District ab und nähert sich Ground Zero.
Die Kamera zoomt von oben auf die Baustelle des 1 WTC, des neuen World Trade Center. Das Rotorengeräusch wird leiser, das Bild löst sich in Weiß auf.
Blende.
Schriftzug, schwarz auf weißem Grund: 1 WTC.
Blende.
Großaufnahme. Frauengesicht im Profil. Augen geschlossen, der Kopf nach vorne gekippt.
Halbtotale. Fußboden, Decke, Wände aus Beton. Rohbau, keine Fenster, aber hell ausgeleuchtet. Über den Boden wabert weißlicher Nebel. Er umspielt einige Wasserpfützen.
Die Frau sitzt zusammengekauert auf den Treppenstufen, die zu einem hellblau gekachelten Whirlpool führen. Ein Bein ist angezogen, die blonden Haare fallen über das Knie. Am Bildrand oben links blinkt im Sekundentakt eine gelbe Alarmleuchte.
Kamerafahrt. Direkt über dem Pool hängt ein Kronleuchter, der die Mitte des Raums markiert. An den Seiten sechs Alkoven, vier Meter breit und zwei Meter tief. In einem stehen eine Liege und ein Sessel, die anderen sind nicht eingerichtet.
Blende.
Halbtotale auf die Frau. Aus einem der Sprinkler tropft eine Flüssigkeit auf ihren Kopf. Langsam fließt sie die blonden Strähnen hinab. Die Frau kippt um, ihr Kopf schlägt auf den Fliesen auf.
Nahaufnahme. Blut läuft unter dem Kopf hervor, in der Lache spiegelt sich die blinkende Alarmleuchte.
Blende.
Berlin. Ausstellungseröffnung in der Temporären Kunsthalle. Etwa achthundert Menschen drängen sich in dem großen Quader, die Besucher interessieren sich wie immer vor allem füreinander. Heute noch mehr als sonst, denn der Raum bietet visuell keine großen Attraktionen. Das Ganze heißt »Zeigen. Eine Audiotour durch Berlin«. Über vierhundert Künstler, Kuratoren und Kulturschaffende haben für die Konzeptkünstlerin Karin Sander Klänge, Töne, Gesprächsfetzen zum Thema Berlin aufgenommen. Eine Ausstellung zum Hören. Auch ich habe etwas beigesteuert, Vogelgezwitscher aus dem Garten.
Am Eingang werden Audioguides ausgegeben; an den weißen Wänden stehen Namensschildchen der verschiedenen Verfasser, versehen mit einer Nummer, die auf den dazugehörenden, im Audioguide gespeicherten Track verweisen. Fast alle Besucher haben Kopfhörer auf, laufen scheinbar ziellos durch den Raum, von der Umgebung durch dick gepolsterte Klangmuscheln getrennt und in einen eigenen Hörkosmos eingeschlossen. Die üblichen Begrüßungen, Küsschen und kurzen Gespräche bleiben aus, stattdessen nickt man sich nur zu. In einigen kleinen, eng beisammenstehenden Grüppchen wird geflüstert, ein leises Rauschen füllt den Raum.
Am Eingang taucht ein Mann auf, der mir vertraut vorkommt. Fünftagebart, Sonnenbrille mit weißem Rand, die Kapuze des weißen Pullis tief ins Gesicht gezogen. Er drängt sich zwischen den herumstehenden Gästen hindurch. Schaut auf die Wand, an der es nichts zu sehen gibt außer den kleinen Schildern. Er kommt langsam in meine Richtung, dreht wieder ab. Plötzlich zischt mir jemand von hinten ins Ohr.
»Sag nichts, hör einfach kurz zu. Ich muss mit dir sprechen. Alleine. Und unbeobachtet. Geh in fünf Minuten rüber in den kleinen Park hinter dem Dom. Und erzähl bitte niemandem, dass du mich getroffen hast.«
Vier, vielleicht fünf Jahre haben wir uns nicht mehr gesehen. Erst vor einem Jahr hat er ein renommiertes Stipendium für einen Aufenthalt in New York erhalten, aber seitdem habe ich nichts von ihm gehört. Keine Ausstellungen, auch auf den Messen in Basel, Berlin und Frankfurt war er nicht vertreten.
Ich versinke für einige Sekunden in Erinnerungen an die gemeinsame Zeit. Wir kennen uns, seit wir zehn Jahre alt sind, gingen auf die gleiche Schule in Wiesbaden. Eine westdeutsche Stadt, die mehr zu sein glaubt, als sie ist. Kapitalistisches Wohlstandsparadies. Freunde wurden wir erst mit sechzehn, siebzehn Jahren. Wir interessierten uns beide für Kunst, Design und Architektur, malten, bauten Möbel und richteten uns ein kleines Atelier ein. Wir hatten Großes vor, allerdings trennten sich unsere Wege mit Beginn des Studiums. Er zog nach Hamburg und dann in die weite Welt hinaus. Paris, Tokio, Mumbai. Stipendien, Ausstellungen, Reisen. Er lebte das Leben, das ich mir immer gewünscht, mich aber nie zu leben getraut hatte. Nun war er also in Berlin.
Als ich mich umdrehe, ist er
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