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Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Titel: Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schopenhauer
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jüdisch-protestantischer Zuversicht darüber abspricht. In dem selben vortrefflichen Geiste geschrieben, obwohl jenem Werke nicht ganz gleich zu schätzen, ist Taulers »Nachfolgung des armen Leben Christi«, nebst dessen »Medulla animae«. Meines Erachtens verhalten die Lehren dieser ächten Christlichen Mystiker sich zu denen des Neuen Testaments, wie zum Wein der Weingeist. Oder: was im Neuen Testament uns wie durch Schleier und Nebel sichtbar wird, tritt in den Werken der Mystiker ohne Hülle, in voller Klarheit und Deutlichkeit uns entgegen. Endlich auch könnte man das Neue Testament als die erste, die Mystiker als die zweite Weihe betrachten – dmikra kai megala mystêria .
    Nun aber noch weiter entfaltet, vielseitiger ausgesprochen und lebhafter dargestellt, als in der Christlichen Kirche und occidentalischen Welt geschehn konnte, finden wir Dasjenige, was wir Verneinung des Willens zum Leben genannt haben, in den uralten Werken der Sanskritsprache. Daß jene wichtige ethische Ansicht des Lebens hier eine noch weitergehende Entwickelung und entschiedenem Ausdruck erlangen konnte, ist vielleicht hauptsächlich Dem zuzuschreiben, daß sie hier nicht von einem ihr ganz fremden Element beschränkt wurde, wie im Christenthum die Jüdische Glaubenslehre ist, zu welcher der erhabene Urheber jenes sich nothwendig, theils bewußt und theils vielleicht selbst unbewußt, bequemen und ihr anfügen mußte, und wodurch das Christenthum aus zwei sehr heterogenen Bestandtheilen zusammengesetzt ist, von denen ich den rein ethischen vorzugsweise, ja ausschließlich den Christlichen nennen und ihn von dem vorgefundenen Jüdischen Dogmatismus unterscheiden möchte. Wenn, wie schon öfter und besonders in jetziger Zeit befürchtet worden ist, jene vortreffliche und heilbringende Religion ein Mal gänzlich in Verfall gerathen könnte; so würde ich den Grund desselben allein darin suchen, daß sie nicht aus einem einfachen, sondern aus zwei ursprünglich heterogenen und nur mittelst des Weltlaufs zur Verbindung gekommenen Elementen besteht, durch deren aus ihrer ungleichen Verwandtschaft und Reaktion zum herangerückten Zeitgeist, entspringende Zersetzung, in solchem Fall die Auflösung hätte erfolgen müssen, nach welcher selbst jedoch der rein ethische Theil noch immer unversehrt bleiben müßte, weil er unzerstörbar ist. – In der Ethik der Hindus nun, wie wir sie schon jetzt, so unvollkommen unsere Kenntniß ihrer Litteratur auch noch ist, auf das mannigfaltigste und kräftigste ausgesprochen finden in den Veden, Puranas, Dichterwerken, Mythen, Legenden ihrer Heiligen, Denksprüchen und Lebensregeln 97 , sehn wir vorgeschrieben: Liebe des Nächsten mit völliger Verleugnung aller Selbstliebe; die Liebe überhaupt nicht auf das Menschengeschlecht beschränkt, sondern alles Lebende umfassend; Wohlthätigkeit bis zum Weggeben des täglich sauer Erworbenen; gränzenlose Geduld gegen alle Beleidiger; Vergeltung alles Bösen, so arg es auch seyn mag, mit Gutem und Liebe; freiwillige und freudige Erduldung jeder Schmach; Enthaltung aller thierischen Nahrung; völlige Keuschheit und Entsagung aller Wollust für Den, welcher eigentliche Heiligkeit anstrebt; Wegwerfung alles Eigenthums, Verlassung jedes Wohnorts, aller Angehörigen, tiefe gänzliche Einsamkeit, zugebracht in stillschweigender Betrachtung, mit freiwilliger Buße und schrecklicher, langsamer Selbstpeinigung, zur gänzlichen Mortifikation des Willens, welche zuletzt bis zum freiwilligen Tode geht durch Hunger, auch durch Entgegengehn den Krokodilen, durch Herabstürzen vom geheiligten Felsengipfel im Himalaja, durch lebendig Begrabenwerden, auch durch Hinwerfung unter die Räder des unter Gesang, Jubel und Tanz der Bajaderen die Götterbilder umherfahrenden ungeheuren Wagens. Und diesen Vorschriften, deren Ursprung über vier Jahrtausende weit hinausreicht, wird auch noch jetzt, so entartet in vielen Stücken jenes Volk ist, noch immer nachgelebt, von Einzelnen selbst bis zu den äußersten Extremen. 98 Was sich so lange, unter einem so viele Millionen umfassenden Volke in Ausübung erhalten hat, während es die schwersten Opfer auflegt, kann nicht willkürlich ersonnene Grille seyn, sondern muß im Wesen der Menschheit seinen Grund haben. Aber hiezu kommt, daß man sich nicht genugsam verwundern kann über die Einhelligkeit, welche man findet, wenn man das Leben eines Christlichen Büßenden oder Heiligen und das eines Indischen liest. Bei so grundverschiedenen

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