Hexenseelen - Roman
Kapitel 1
S ie betrachtete die Gitterstäbe, die sie von allen Seiten umschlossen und ihre Welt auf die Größe eines Kaninchenstalls zu begrenzen schienen, während alles außerhalb ihr stets entglitt, als ob sie aus einer Narkose erwachte und sich durch einen Schwindel kämpfte, zurück in die Wirklichkeit.
Was ist mit mir passiert? Diese klare, grundlegende Frage durchdrang das Wirrwarr ihrer Sinneseindrücke und gab ihren Gedanken Richtung und Ziel. Die Lage, in der sie sich befand, war alles andere als beruhigend. Ein Käfig. Sie war in einen Käfig eingesperrt, dessen Tür ein klobiges Schloss sicherte. Sie merkte, wie sich ihre Lippen zu einem freudlosen Lächeln verzogen. Sie wusste zwar nicht, wie ihr Name lautete, wo sie sich befand und warum, aber mit Schlössern kannte sie sich aus.
Du musst etwas finden, womit du es öffnen kannst. Denk nach!
Ihr Blick schweifte suchend umher. Der Käfig stand in der Ecke eines Schlafzimmers, das vermutlich nur einer Person gehörte, wie sie beim Betrachten des schmalen Bettes feststellte. Wenn sie eine Hand zwischen den Gitterstäben hindurchschieben würde, könnte sie einen Kleiderschrank
mit einer verglasten Tür erreichen. Höchstwahrscheinlich würde es ihr sogar gelingen, das Glas zu zerbrechen. Aber da sie nicht vorhatte, sich mit den Scherben die Adern aufzuschlitzen, nützte es ihr wenig. Schräg gegenüber befand sich ein Fenster mit cremefarbenen Gardinen und daneben eine Kommode. Darauf eine Bürste, Haargummis und Spangen. Selbst auf dem Teppich lagen noch Klammern und Haarnadeln. Ylva traute ihren Augen kaum: Genau das, was sie brauchte, gerade mal einen Meter entfernt! Mit einem unbändigen Hochgefühl streckte sie ihren Arm zwischen den Gitterstäben hindurch. Doch egal, wie sie sich reckte und wand: Sie hatte die Entfernung falsch eingeschätzt. Es gelang ihr nicht, die Nadeln zu erreichen. Als wollte die Person, die sie hier gefangen hielt, sie auf diese Weise verhöhnen.
Halt. Nicht ärgern - weiter denken. Wer wusste schon, warum sie eingesperrt war? Sie zumindest nicht. Vielleicht war sie es, die eine Gefahr für andere darstellte? Vielleicht sollte sie es gar nicht darauf anlegen, hier herauszukommen?
Ein Schatten an der Wand schreckte sie auf. Ein länglicher Körper mit graubraunem Fell und einem nackten Schwanz huschte zu ihr herüber. Das Tier verharrte vor dem Zwinger, stellte sich auf die Hinterpfoten und schnupperte. Eine Ratte!
Der Anblick des Nagers rief etwas Vertrautes in ihr hervor, einen Hauch von Erinnerung. Sie wollte schon immer eine Ratte haben, sie hatte so oft ihren Paps darum gebeten … Da waren sie, Bilder aus ihrer Vergangenheit,
noch zart und zerbrechlich in ihrem Kopf. Sie schloss die Lider, um sich intensiver darauf zu konzentrieren.
Spröde Hände strichen ihr über den Kopf. Mein Mädchen, du musstest so schnell erwachsen werden … Ich lasse nicht zu, dass dir etwas passiert. Die dürfen dich nicht kriegen, verstehst du?
Die Ratte fiepte, riss sie mit dem schrillen Laut aus ihren Gedanken. Dummes Tier! Sie betrachtete den Nager, ohne in der Lage zu sein, ihm zu zürnen. Er konnte ja nichts dafür.
Seltsam, je länger sie die Ratte beobachtete, desto mehr kam es ihr vor, als erwarte der Nager etwas von ihr. Sichtlich angespannt, wippte er auf den Hinterbeinen. Die rosa Nase bebte, die runden Lauscher zuckten leicht.
Sie lächelte ihm zu. »Hey … du!« Die Worte kamen ihr zögernd über die Lippen, als müssten sich Kehle und Zunge erst daran gewöhnen, menschliche Laute hervorzustoßen. Die Stimme klang tief und rau in ihren Ohren, angenehm und zugleich fremd. »Ich bin wohl keine von der allzu gesprächigen Sorte. Du auch nicht, was?«
Der Nager traute sich ein Stück näher und bewirkte damit etwas Merkwürdiges.
Ihre Fingerspitzen begannen zu prickeln. Zunächst sachte, als wären ihre Extremitäten eingeschlafen, dann immer stärker. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Das sanfte Pochen ging in ihre Knochen über und wallte durch den ganzen Körper. Ihr Kopf fühlte sich schwerelos an, wie einer dieser glitzernden Luftballons, die ihr Paps ihr manchmal geschenkt hatte. Damals, bevor …
Was geschieht mit mir? Der Gedanke durchfuhr sie wie ein Stromstoß, drohte sie in Kälte und Dunkelheit zu stoßen, zurück in das erschreckende Gewirr aus Fratzen, höhnenden Stimmen und schmerzenden Hieben.
Der Zustand der Ratte veränderte sich ebenfalls. Ein Zittern ging durch den pelzigen Leib, und das Tier
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