Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Nervenfäden in ein Ganglion zusammenlaufen, da ist gewissermaaßen ein eigenes Thier vorhanden und abgeschlossen, welches, mittelst des Ganglions, eine Art von schwacher Erkenntniß hat, deren Sphäre jedoch beschränkt ist auf die Theile, aus denen diese Nerven unmittelbar kommen. Was nun aber diese Theile auf solche quasi Erkenntniß aktuirt, ist offenbar Wille , ja, wir vermögen gar nicht es anders auch nur zu denken. Hierauf beruht die vita propria jedes Theils, wie auch, bei Insekten, als welche, statt des Rückenmarks, einen doppelten Nervenstrang mit Ganglien in regelmäßigen Entfernungen haben, die Fähigkeit jedes Theils, nach Trennung vom Kopf und übrigen Rumpf, noch tagelang zu leben; endlich auch die, in letzter Instanz, nicht vom Gehirn aus motivirten Handlungen, d.i. Instinkt und Kunsttrieb. Marshall Hall, dessen Entdeckung der Reflexbewegungen ich oben erwähnte, hat in derselben uns eigentlich die Theorie der unwillkürlichen Bewegungen geliefert. Diese sind theils normale oder physiologische: dahin gehören die Verschließung der Ein- und Ausgänge des Leibes, also der sphincteres vesicae et ani (ausgehend von Rückenmarksnerven), der Augenlider im Schlaf (vom fünften Nervenpaare aus), des Larynx (vom N. vagus aus), wenn Speisen an ihm vorübergehn, oder Kohlensäure eindringen will, sodann das Schlucken, vom Pharynx an, das Gähnen, Niesen, die Respiration, im Schlafe ganz, im Wachen zum Theil, endlich die Erektion, Ejakulation, wie auch die Konception u.a.m.: theils sind sie abnormale oder pathologische: dahin gehören das Stottern, der Schluchzen, das Erbrechen, wie auch die Krämpfe und Konvulsionen aller Art, zumal in der Epilepsie, im Tetanus, in der Hydrophobie und sonst, endlich die durch galvanischen oder andern Reiz hervorgerufenen, ohne Gefühl und Bewußtsein geschehenden Zuckungen paralysirter, d.h. außer Verbindung mit dem Gehirn gesetzter Glieder, eben so die Zuckungen enthaupteter Thiere, endlich alle Bewegungen und Aktionen hirnlos geborener Kinder. Alle Krämpfe sind eine Rebellion der Nerven der Glieder gegen die Souveränität des Gehirns: hingegen sind die normalen Reflexbewegungen die legitime Autokratie untergeordneter Beamten. Diese sämmtlichen Bewegungen also sind unwillkürlich, weil sie nicht vom Gehirn ausgehn und daher nicht auf Motive geschehn, sondern auf bloße Reize. Die sie veranlassenden Reize gelangen bloß zum Rückenmark, oder zur medulla oblongata , und von da aus geschieht unmittelbar die Reaktion, welche die Bewegung bewirkt. Das selbe Verhältniß, welches das Gehirn zu Motiv und Handlung hat, hat das Rückenmark zu jenen unwillkürlichen Bewegungen, und was der sentient and voluntary nerv[e] für jenes, ist für dieses der incident and motor nerv[e] . Daß dennoch, in den Einen wie in den Andern, das eigentlich Bewegende der Wille ist, fällt um so deutlicher in die Augen, als die unwillkürlich bewegten Muskeln großentheils die selben sind, welche, unter andern Umständen, vom Gehirn aus bewegt werden, in den willkürlichen Aktionen, wo ihr primum mobile uns durch das Selbstbewußtseyn als Wille intim bekannt ist. Marshall Halls vortreffliches Buch On the diseases of the nervous system ist überaus geeignet, den Unterschied zwischen Willkür und Wille deutlich zu machen und die Wahrheit meiner Grundlehre zu bestätigen.
Erinnern wir uns jetzt, zur Veranschaulichung alles hier Gesagten, an diejenige Entstehung eines Organismus, welche unserer Beobachtung am zugänglichsten ist. Wer macht das Hühnchen im Ei? etwan eine von außen kommende und durch die Schaale dringende Macht und Kunst? O nein! das Hühnchen macht sich selbst, und eben die Kraft, welche dieses über allen Ausdruck komplicirte, wohlberechnete und zweckmäßige Werk ausführt und vollendet, durchbricht, sobald es fertig ist, die Schaale, und vollzieht nunmehr, unter der Benennung Wille , die äußern Handlungen des Hühnchens. Beides zugleich konnte sie nicht leisten: vorher mit Ausarbeitung des Organismus beschäftigt, hatte sie keine Besorgung nach außen. Nachdem nun aber jener vollendet ist, tritt diese ein, unter Leitung des Gehirns und seiner Fühlfäden, der Sinne, als eines zu diesem Zweck vorhin bereiteten Werkzeuges, dessen Dienst erst anfängt, wann es im Selbstbewußtsein als Intellekt aufwacht, der die Laterne der Schritte des Willens, sein hêgemonikon , und zugleich der Träger der objektiven Außenwelt ist, so beschränkt auch der Horizont dieser im Bewußtsein eines
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