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Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Titel: Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schopenhauer
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endlich die physiatrische Ansicht geltend gemacht, welcher zufolge die Krankheiten selbst ein Heilproceß der Natur sind, den sie einleitet, um eine irgendwie im Organismus eingerissene Unordnung durch Ueberwindung der Ursachen derselben zu beseitigen, wobei sie, im entscheidenden Kampf, der Krisis, entweder den Sieg davonträgt und ihren Zweck erreicht, oder aber unterliegt. Ihre ganze Rationalität gewinnt diese Ansicht erst von unserm Standpunkt aus, welcher in der Lebenskraft, die hier als vis naturae medicatrix auftritt, den Willen erkennen läßt, der im gesunden Zustand allen organischen Funktionen zum Grunde liegt, jetzt aber, bei eingetretenen, sein ganzes Werk bedrohenden Unordnungen, sich mit diktatorischer Gewalt bekleidet, um durch ganz außerordentliche Maaßregeln und völlig abnorme Operationen (die Krankheit) die rebellischen Potenzen zu dämpfen und Alles ins Gleis zurückzuführen. Daß hingegen, wie Brandis , in den Stellen seines Buches »Ueber die Anwendung der Kälte«, die ich im ersten Abschnitt meiner Abhandlung »Ueber den Willen in der Natur« angeführt habe, sich wiederholt ausdrückt, der Wille selbst krank sei, ist ein grobes Mißverständniß. Wenn ich dieses erwäge und zugleich bemerke, daß Brandis in seinem frühen Buch »Ueber die Lebenskraft« von 1795 keine Ahndung davon verräth, daß diese Kraft an sich der Wille sei, vielmehr daselbst S. 13 sagt: »Unmöglich kann die Lebenskraft das Wesen seyn, welches wir nur durch unser Bewußtsein kennen, da die meisten Bewegungen ohne unser Bewußtsein vorgehn. Die Behauptung, daß dieses Wesen, dessen einziger uns bekannter Charakter Bewußtseyn ist, auch ohne Bewußtseyn auf den Körper wirke, ist wenigstens ganz willkürlich und unbewiesen«; und S. 14: »Gegen die Meinung, daß alle lebendige Bewegung Wirkung der Seele sei, sind, wie ich glaube, Haller's Einwürfe unwiderleglich«; – wenn ich ferner bedenke, daß er sein Buch »Ueber die Anwendung der Kälte«, worin der Wille mit einem Male so entschieden als Lebenskraft auftritt, im siebzigsten Jahre geschrieben hat, einem Alter, in welchem wohl noch Niemand originelle Grundgedanken zuerst gefaßt hat; – wenn ich dabei noch berücksichtige, daß er sich gerade meiner Ausdrücke »Wille und Vorstellung«, nicht aber der sonst viel gebräuchlicheren »Begehrungs- und Erkenntniß-Vermögen« bedient: – bin ich, meiner frühem Voraussetzung entgegen, jetzt der Ueberzeugung daß er seinen Grundgedanken von mir entlehnt und, mit der heut zu Tage in der gelehrten Welt üblichen Redlichkeit, davon geschwiegen hat. Das Nähere hierüber findet man in der zweiten Auflage der Schrift »Ueber den Willen in der Natur«, S. 14.
    Die Thesis, welche uns in gegenwärtigem Kapitel beschäftigt, zu bestätigen und zu erläutern, ist nichts geeigneter, als Bichat's mit Recht berühmtes Buch Sur la vie et la mort. Seine und meine Betrachtungen unterstützen sich wechselseitig, indem die seinigen der physiologische Kommentar der meinigen, und diese der philosophische Kommentar der seinigen sind und man uns beiderseits zusammengelesen am besten verstehn wird. Vornehmlich ist hier von der ersten Hälfte seines Werkes, betitelt Recherches physiologiques sur la vie , die Rede. Seinen Auseinandersetzungen legt er den Gegensatz von organischem und animalischem Leben zum Grunde, welcher dem meinigen von Willen und Intellekt entspricht. Wer auf den Sinn, nicht auf die Worte sieht, wird sich nicht dadurch irre machen lassen, daß er den Willen dem animalischen Leben zuschreibt; da er darunter, wie gewöhnlich, bloß die bewußte Willkür versteht, welche allerdings vom Gehirn ausgeht, wo sie jedoch, wie oben gezeigt worden, noch kein wirkliches Wollen, sondern die bloße Ueberlegung und Berechnung der Motive ist, deren Konklusion, oder Facit, zuletzt als Willensakt hervortritt. Alles was ich dem eigentlichen Willen zuschreibe, legt er dem organischen Leben bei, und Alles was ich als Intellekt fasse, ist bei ihm das animale Leben: dieses hat bei ihm seinen Sitz allein im Gehirn nebst Anhängen; jenes hingegen im ganzen übrigen Organismus. Der durchgängige Gegensatz, in welchem er Beide gegen einander nachweist, entspricht dem, welcher bei mir zwischen Willen und Intellekt vorliegt. Er geht dabei, als Anatom und Physiolog, vom Objektiven, d.h. vom Bewußtseyn anderer Dinge, aus; ich, als Philosoph, vom Subjektiven, dem Selbstbewußtseyn: und da ist es nun eine Freude zu sehn, wie wir, gleich den zwei

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