Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
minder täglich die verworrensten und schlimmsten Händel anzettelt, die werthvollsten Verhältnisse auflöst, die festesten Bande zerreißt, bisweilen Leben, oder Gesundheit, bisweilen Reichthum, Rang und Glück zu ihrem Opfer nimmt, ja, den sonst Redlichen gewissenlos, den bisher Treuen zum Verräther macht, demnach im Ganzen auftritt als ein feindsäliger Dämon, der Alles zu verkehren, zu verwirren und umzuwerfen bemüht ist; – da wird man veranlaßt auszurufen: Wozu der Lerm? Wozu das Drängen, Toben, die Angst und die Noth? Es handelt sich ja bloß darum, daß jeder Hans seine Grethe 63 finde: weshalb sollte eine solche Kleinigkeit eine so wichtige Rolle spielen und unaufhörlich Störung und Verwirrung in das wohlgeregelte Menschenleben bringen? – Aber dem ernsten Forscher enthüllt allmälig der Geist der Wahrheit die Antwort: Es ist keine Kleinigkeit, worum es sich hier handelt; vielmehr ist die Wichtigkeit der Sache dem Ernst und Eifer des Treibens vollkommen angemessen. Der Endzweck aller Liebeshändel, sie mögen auf dem Sockus, oder dem Kothurn gespielt werden, ist wirklich wichtiger, als alle andern Zwecke im Menschenleben, und daher des tiefen Ernstes, womit Jeder ihn verfolgt, völlig werth. Das nämlich, was dadurch entschieden wird, ist nichts Geringeres, als die Zusammensetzung der nächsten Generation. Die dramatis personae , welche auftreten werden, wann wir abgetreten sind, werden hier, ihrem Daseyn und ihrer Beschaffenheit nach, bestimmt, durch diese so frivolen Liebeshändel. Wie das Seyn, die Existentia , jener künftigen Personen durch unsern Geschlechtstrieb überhaupt, so ist das Wesen, die Essentia derselben durch die individuelle Auswahl bei seiner Befriedigung, d.i. die Geschlechtsliebe, durchweg bedingt, und wird dadurch, in jeder Rücksicht, unwiderruflich festgestellt. Dies ist der Schlüssel des Problems: wir werden ihn, bei der Anwendung, genauer kennen lernen, wann wir die Grade der Verliebtheit, von der flüchtigsten Neigung bis zur heftigsten Leidenschaft, durchgehn, wobei wir erkennen werden, daß die Verschiedenheit derselben aus dem Grade der Individualisation der Wahl entspringt.
Die sämmtlichen Liebeshändel der gegenwärtigen Generation zusammengenommen sind demnach des ganzen Menschengeschlechts ernstliche meditatio compositionis generationis futurae, e qua iterum pendent innumerae generationes . Diese hohe Wichtigkeit der Angelegenheit, als in welcher es sich nicht, wie in allen übrigen, um individuelles Wohl und Wehe, sondern um das Daseyn und die specielle Beschaffenheit des Menschengeschlechts in künftigen Zeiten handelt und daher der Wille des Einzelnen in erhöhter Potenz, als Wille der Gattung, auftritt, diese ist es, worauf das Pathetische und Erhabene der Liebesangelegenheiten, das Transscendente ihrer Entzückungen und Schmerzen beruht, welches in zahllosen Beispielen darzustellen die Dichter seit Jahrtausenden nicht müde werden; weil kein Thema es an Interesse diesem gleich thun kann, als welches, indem es das Wohl und Wehe der Gattung betrifft, zu allen übrigen, die nur das Wohl der Einzelnen betreffen, sich verhält wie Körper zu Fläche. Daher eben ist es so schwer, einem Drama ohne Liebeshändel Interesse zu ertheilen, und wird andererseits, selbst durch den täglichen Gebrauch, dies Thema niemals abgenutzt.
Was im individuellen Bewußtseyn sich kund giebt als Geschlechtstrieb überhaupt und ohne die Richtung auf ein bestimmtes Individuum des andern Geschlechts, das ist an sich selbst und außer der Erscheinung der Wille zum Leben schlechthin. Was aber im Bewußtseyn erscheint als auf ein bestimmtes Individuum gerichteter Geschlechtstrieb, das ist an sich selbst der Wille, als ein genau bestimmtes Individuum zu leben. In diesem Falle nun weiß der Geschlechtstrieb, obwohl an sich ein subjektives Bedürfniß, sehr geschickt die Maske einer objektiven Bewunderung anzunehmen und so das Bewußtseyn zu täuschen: denn die Natur bedarf dieses Stratagems zu ihren Zwecken. Daß es aber, so objektiv und von erhabenem Anstrich jene Bewunderung auch erscheinen mag, bei jedem Verliebtseyn doch allein abgesehn ist auf die Erzeugung eines Individuums von bestimmter Beschaffenheit, wird zunächst dadurch bestätigt, daß nicht etwan die Gegenliebe, sondern der Besitz, d.h. der physische Genuß, das Wesentliche ist. Die Gewißheit jener kann daher über den Mangel dieses keineswegs trösten: vielmehr hat in solcher Lage schon Mancher sich erschossen. Hingegen
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