Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Titel: Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schopenhauer
Vom Netzwerk:
Abgrund der Betrachtung, indem wir, über den Ursprung einer solchen Verschiedenheit nachsinnend, vergeblich brüten. Hindu und Buddhaisten lösen das Problem dadurch, daß sie sagen: »Es ist die Folge der Thaten des vorhergegangenen Lebenslaufes«. Diese Lösung ist zwar die älteste, auch die faßlichste und von den Weisesten der Menschheit ausgegangen: sie schiebt jedoch nur die Frage weiter zurück. Eine befriedigendere wird dennoch schwerlich gefunden werden. Vom Standpunkt meiner ganzen Lehre aus bleibt mir zu sagen übrig, daß hier, wo der Wille als Ding an sich zur Sprache kommt, der Satz vom Grunde, als bloße Form der Erscheinung, keine Anwendung mehr findet, mit ihm aber alles Warum und Woher wegfällt. Die absolute Freiheit besteht eben darin, daß Etwas dem Satz vom Grunde, als dem Princip aller Nothwendigkeit, gar nicht unterworfen ist: eine solche kommt daher nur dem Dinge an sich zu, dieses aber ist gerade der Wille. Er ist demnach in seiner Erscheinung, mithin im Operari , der Nothwendigkeit unterworfen: im Esse aber, wo er sich als Ding an sich entschieden hat, ist er frei . Sobald wir daher, wie hier geschieht, an dieses kommen, hört alle Erklärung mittelst Gründen und Folgen auf, und uns bleibt nichts übrig, als zu sagen: hier äußert sich die wahre Freiheit des Willens, die ihm zukommt, sofern er das Ding an sich ist, welches aber eben als solches grundlos ist, d.h. kein Warum kennt. Eben dadurch aber hört für uns hier alles Verständniß auf; weil all unser Verstehn auf dem Satz vom Grunde beruht, indem es in der bloßen Anwendung desselben besteht.

Kapitel 44. Metaphysik der Geschlechtsliebe
    Ihr Weisen, hoch und tief gelahrt,
    Die ihr's ersinnt und wißt,
    Wie, wo und wann sich Alles paart?
    Warum sich's liebt und küßt?
    Ihr hohen Weisen, sagt mir's an!
    Ergrübelt, was mir da,
    Ergrübelt mir, wo, wie und wann,
    Warum mir so geschah?
    Bürger

    Dieses Kapitel ist das letzte von vieren, deren mannigfaltige gegenseitige Beziehungen zu einander, vermöge welcher sie gewissermaaßen ein untergeordnetes Ganzes bilden, der aufmerksame Leser erkennen wird, ohne daß ich nöthig hätte, durch Berufungen und Zurückweisungen meinen Vortrag zu unterbrechen.
    Die Dichter ist man gewohnt hauptsächlich mit der Schilderung der Geschlechtsliebe beschäftigt zu sehn. Diese ist in der Regel das Hauptthema aller dramatischen Werke, der tragischen, wie der komischen, der romantischen, wie der klassischen, der Indischen, wie der Europäischen: nicht weniger ist sie der Stoff des bei Weitem größten Theils der lyrischen Poesie, und ebenfalls der epischen; zumal wenn wir dieser die hohen Stöße von Romanen beizählen wollen, welche, in allen civilisirten Ländern Europas, jedes Jahr so regelmäßig wie die Früchte des Bodens erzeugt, schon seit Jahrhunderten. Alle diese Werke sind, ihrem Hauptinhalte nach, nichts Anderes, als vielseitige, kurze oder ausführliche Beschreibungen der in Rede stehenden Leidenschaft. Auch haben die gelungensten Schilderungen derselben, wie z.B. Romeo und Julie, die neue Heloise, der Werther, unsterblichen Ruhm erlangt. Wenn dennoch Rochefoucauld meint, es sei mit der leidenschaftlichen Liebe wie mit den Gespenstern, Alle redeten davon, aber Keiner hätte sie gesehn; und ebenfalls Lichtenberg in seinem Aufsatze »Ueber die Macht der Liebe« die Wirklichkeit und Naturgemäßheit jener Leidenschaft bestreitet und ableugnet; so ist dies ein großer Irrthum. Denn es ist unmöglich, daß ein der menschlichen Natur Fremdes und ihr Widersprechendes, also eine bloß aus der Luft gegriffene Fratze, zu allen Zeiten vom Dichtergenie unermüdlich dargestellt und von der Menschheit mit unveränderter Theilnahme aufgenommen werden könne; da ohne Wahrheit kein Kunstschönes seyn kann:

    Rien n'est beau que le vrai; le vrai seul est aimable.

    Allerdings aber bestätigt es auch die Erfahrung, wenn gleich nicht die alltägliche, daß Das, was in der Regel nur als eine lebhafte, jedoch noch bezwingbare Neigung vorkommt, unter gewissen Umständen anwachsen kann zu einer Leidenschaft, die an Heftigkeit jede andere übertrifft, und dann alle Rücksichten beseitigt, alle Hindernisse mit unglaublicher Kraft und Ausdauer überwindet, so daß für ihre Befriedigung unbedenklich das Leben gewagt, ja, wenn solche schlechterdings versagt bleibt, in den Kauf gegeben wird. Die Werther und Jacopo Ortis existiren nicht bloß im Romane; sondern jedes Jahr hat deren in Europa wenigstens ein halbes

Weitere Kostenlose Bücher