Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
öffentlichen Aussteuern nicht, wie jetzt üblich, den angeblich tugendhaftesten, sondern den verständigsten und geistreichsten Mädchen zuzuerkennen; zumal da über die Tugend das Urtheil gar schwierig ist: denn nur Gott, sagt man, sieht die Herzen; die Gelegenheiten, einen edlen Charakter an den Tag zu legen, sind selten und dem Zufall anheimgestellt; zudem hat die Tugend manches Mädchens eine kräftige Stütze an der Häßlichkeit desselben: hingegen über den Verstand können Die, welche selbst damit begabt sind, nach einiger Prüfung, mit vieler Sicherheit urtheilen. – Eine andere praktische Anwendung ist folgende. In vielen Ländern, auch im südlichen Deutschland, herrscht die schlimme Sitte, daß Weiber Lasten, und oft sehr beträchtliche, auf dem Kopfe tragen. Dies muß nachtheilig auf das Gehirn wirken; wodurch dasselbe, beim weiblichen Geschlechte im Volke, sich allmälig deteriorirt, und da von ihm das männliche das seinige empfängt, das ganze Volk immer dümmer wird; welches bei vielen gar nicht nöthig ist. Durch Abstellung dieser Sitte würde man demnach das Quantum der Intelligenz im Ganzen des Volkes vermehren; welches zuverlässig die größte Vermehrung des Nationalreichthums wäre.
Wenn wir aber jetzt, dergleichen praktische Anwendungen Andern überlassend, auf unsern eigenthümlichen, also den ethisch-metaphysischen Standpunkt zurückkehren; so wird sich uns, indem wir den Inhalt des 41. Kapitels mit dem des gegenwärtigen verbinden, folgendes Ergebniß darstellen, welches, bei aller seiner Transscendenz, doch eine unmittelbare, empirische Stütze hat. – Es ist der selbe Charakter, also der selbe individuell bestimmte Wille, welcher in allen Descendenten eines Stammes, vom Ahnherrn bis zum gegenwärtigen Stammhalter, lebt. Allein in jedem derselben ist ihm ein anderer Intellekt, also ein anderer Grad und eine andere Weise der Erkenntniß beigegeben. Dadurch nun stellt sich ihm, in jedem derselben, das Leben von einer andern Seite und in einem verschiedenen Lichte dar: er erhält eine neue Grundansicht davon, eine neue Belehrung. Zwar kann, da der Intellekt mit dem Individuo erlischt, jener Wille nicht die Einsicht des einen Lebenslaufes durch die des andern unmittelbar ergänzen. Allein in Folge jeder neuen Grundansicht des Lebens, wie nur eine erneuere Persönlichkeit sie ihm verleihen kann, erhält sein Wollen selbst eine andere Richtung, erfährt also eine Modifikation dadurch, und was die Hauptsache ist, er hat, auf dieselbe, von Neuem das Leben zu bejahen, oder zu verneinen. Solchermaaßen wird die, aus der Nothwendigkeit zweier Geschlechter zur Zeugung entspringende Naturanstalt der immer wechselnden Verbindung eines Willens mit einem Intellekt zur Basis einer Heilsordnung. Denn vermöge derselben kehrt das Leben dem Willen (dessen Abbild und Spiegel es ist) unaufhörlich neue Seiten zu, dreht sich gleichsam ohne Unterlaß vor seinem Bliche herum, läßt andere und immer andere Anschauungsweisen sich an ihm versuchen, damit er, auf jede derselben, sich zur Bejahung oder Verneinung entscheide, welche Beide ihm beständig offen stehn; nur daß, wenn Ein Mal die Verneinung ergriffen wird, das ganze Phänomen für ihn, mit dem Tode, aufhört. Weil nun hienach dem selben Willen gerade die beständige Erneuerung und völlige Veränderung des Intellekts, als eine neue Weltansicht verleihend, den Weg des Heils offen hält, der Intellekt aber von der Mutter kommt; so möchte hier der tiefe Grund liegen, aus welchem alle Völker (mit sehr wenigen, ja schwankenden Ausnahmen) die Geschwisterehe verabscheuen und verbieten, ja sogar eine Geschlechtsliebe zwischen Geschwistern gar nicht entsteht, es sei denn in höchst seltenen, auf einer naturwidrigen Perversität der Triebe, wo nicht auf der Unächtheit des Einen von ihnen, beruhenden Ausnahmen. Denn aus einer Geschwisterehe könnte nichts Anderes hervorgehn, als stets nur der selbe Wille mit dem selben Intellekt, wie beide schon vereint in beiden Eltern existiren, also die hoffnungslose Wiederholung der schon vorhandenen Erscheinung.
Wenn wir aber nun, im Einzelnen und in der Nähe, die unglaublich große und doch so augenfällige Verschiedenheit der Charaktere ins Auge fassen, den Einen so gut und menschenfreundlich, den Andern so boshaft, ja, grausam vorfinden, wieder Einen gerecht, redlich und aufrichtig, einen Andern voller Falsch, als einen Schleicher, Betrüger, Verräther, inkorrigibeln Schurken erblicken; da eröffnet sich uns ein
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