Die Welt ohne uns
Großfürst Wladislaw Jagiello, nachdem er sein Großfürstentum mit dem Königreich Polen vereint hatte, den Wald zum königlichen Jagdrevier. Jahrhundertelang änderte sich nichts an diesem Status. Als die polnischlitauische Union schließlich von Russland geschluckt wurde, erklärten die Zaren die Puszcza zu ihrem Privatgebiet. Während des Ersten Weltkriegs schlugen die deutschen Besatzungstruppen hier zwar Holz und jagten die Wildbestände, doch blieb ein Kerngebiet in seiner urwüchsigen Form erhalten, das 1921 ein polnischer Nationalpark wurde. Kurzzeitig wurde der Holzschlag von den Sowjets wiederaufgenommen, doch als die deutsche Wehrmacht einfiel, erklärte Reichsmarschall Hermann Göring, ein fanatischer Naturfreund, den Park zum absoluten Sperrgebiet, das einzig und allein seinem Vergnügen vorbehalten war.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erklärte sich Josef Stalin während der Neuordnung der europäischen Grenzen bereit, zwei Fünftel des Waldes bei Polen zu belassen. Wenig veränderte sich unter kommunistischer Herrschaft, abgesehen vom Bau einiger Jagddatschen für die Parteielite. Leider stellt sich heute heraus, dass dieses uralte Schutzgebiet unter der jetzigen polnischen Demokratie und der weißrussischen Unabhängigkeit größeren Gefahren ausgesetzt ist als in den Jahrhunderten von Monarchie und Diktatur. Die Forstministerien in beiden Ländern unternahmen vermehrte Anstrengungen, den Urwald zu erhalten. Sogenannte forstwirtschaftliche Maßnahmen verschleiern jedoch den Umstand, dass schlagreife Hartholzbäume ausfindig gemacht – und verkauft – werden, die sonst eines Tages umstürzen und den Wald mit neuen Nahrungsmitteln versorgen würden.
Der Gedanke, dass ganz Europa einmal wie dieser Urwald gewesen sein soll, mutet merkwürdig an. Verfolgen wir ihn weiter, wird uns klar, dass wir uns schon sehr weit von unseren eigentlichen Ursprüngen entfernt haben. Der Anblick von Holunderbäumen mit Stämmen von mehr als zwei Metern Durchmesser oder der höchsten Bäume, die es hier gibt – riesige zerzauste Nordlandfichten –, wirkt auf uns, die wir an die vergleichsweise winzigen, forstwirtschaftlich genutzten Wälder der nördlichen Hemisphäre gewöhnt sind, fast ebenso exotisch, als befänden wir uns in Amazonien oder der Antarktis.
Als Student der Forstwirtschaft in Krakau hatte Andrzej Bobiec gelernt, den Wald unter dem Gesichtspunkt der Ertragsmaximierung zu bewirtschaften, was beispielsweise bedeutet, dass man »unverwertbare« organische Abfälle beseitigt, damit sich dort keine Forstschädlinge wie der Borkenkäfer einnisten. Doch bei einem Besuch im Bialoweza--Urwald entdeckte der Forstökologe zu seinem Erstaunen eine zehn Mal größere Artenvielfalt als in jedem Wald, den er bisher zu Gesicht bekommen hatte.
Beispielsweise waren einzig dort noch alle neun europäischen Spechtarten anzutreffen, weil einige von ihnen nur in hohlen, toten Baumstämmen nisten. »Dieser Urwald hat sich jahrtausendelang ausgezeichnet selbst bewirtschaftet«, erklärt Bobiec.
Der kräftige, bärtige Forstwirt bekam einen Posten beim polnischen Nationalparkamt, wurde jedoch wieder entlassen, weil er gegen forstwirtschaftliche Maßnahmen protestierte, die den eigentlichen Urwald immer stärker in Mitleidenschaft zogen.
Jahrelang schnürte er seine Lederstiefel und begab sich täglich auf lange Wanderungen durch seine geliebte Puszcza. Doch obwohl er jene Teile des Waldes, die von Menschenhand noch unberührt sind, engagiert verteidigt, ist Andrzej Bobiec auch fasziniert von den Spuren, die der Mensch dort im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende hinterlassen hat.
Eine so urtümliche Wildnis hält alle Spuren menschlicher Anwesenheit fest und Bobiec hat gelernt, sie zu entziffern. Holzkohleschichten im Boden zeigen ihm, wo einst Waldflächen von Jägern niedergebrannt wurden, um Lichtungen zum Äsen des Wildes zu schaffen. Bestände mit Birken und Zitterpappeln zeugen von Zeiten, in denen Jagiellos Nachkommen sich anderen Dingen widmen mussten als der Jagd, vielleicht dem Krieg – und zwar so lange, dass diese sonnenhungrigen Baumarten die Waldlichtungen wieder in Besitz nehmen konnten. Die Schößlinge in ihrem Schatten verraten, welche Harthölzer hier einst wuchsen. Allmählich werden sie die Birken und Espen verdrängen, bis es sein wird, als wären sie nie verschwunden gewesen.
Immer wenn Bobiec auf einen ungewöhnlichen Strauch wie Weißdorn oder einen alten Apfelbaum stößt, weiß er, dass
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