Die Welt ohne uns
dort einmal eine Holzhütte gestanden haben muss und schon längst von den gleichen Mikroorganismen verzehrt wurde, welche die riesigen Bäume hier wieder in Erde verwandeln können. Jede der mächtigen Solitäreichen, die Bobiec auf einem niedrigen, kleebedeckten Hügel antrifft, markiert einen Ort, wo Feuerbestattungen stattgefunden haben. Ihre Wurzeln nähren sich von der Asche jener Slawen, die vor 900 Jahren aus dem Osten kamen und die Vorfahren der heutigen Weißrussen sind. An der Nordwestecke des Waldes haben Juden aus umliegenden Ortschaften ihre Toten begraben. Ihre in Sandstein und Granit gearbeiteten Grabsteine aus der Mitte des 19. Jahrhunderts sind moosbedeckt und von Wurzeln zu Fall gebracht. Wind und Wetter haben sie so glatt geschliffen, dass sie den Kieselsteinen ähneln, die trauernde Verwandte – inzwischen selbst schon längst verstorben – einst zum Zeichen des Gedenkens daraufgelegt haben.
Andrzej Bobiec durchquert eine blaugraue Kiefernschneise, knapp anderthalb Kilometer von der weißrussischen Grenze entfernt. Der verblassende Oktobernachmittag ist so still, dass Bobiec die Schneeflocken fallen hören kann. Plötzlich ertönt ein lautes Knacken im Unterholz und ein Dutzend Wisente bricht aus dem Versteck hervor, in dem sie sich an jungen Schößlingen gütlich getan haben. Einen Moment richten sie stampfend ihre riesigen schwarzen Augen auf den Eindringling, bevor sie die Flucht ergreifen.
Nur noch 600 Wisente leben in freier Wildbahn, fast alle von ihnen hier – oder nur die Hälfte von ihnen, je nachdem, was man unter hier versteht. Dieses Paradies wird von einer Grenze geteilt, die in den achtziger Jahren von den Sowjets errichtet wurde, um zu verhindern, dass Weißrussen ins liberale Polen flohen. Während sich die Wölfe einen Weg unter dem Zaun hindurchgraben und man annimmt, dass Rehwild und Elche über ihn hinwegspringen, bleibt die Herde dieser größten europäischen Säugetiere und mit ihnen ihr Genpool getrennt – und somit bedrohlich verringert, wie einige Zoologen befürchten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden Wisente aus zoologischen Gärten hierher gebracht, um eine Art wiederaufzufüllen, die von hungrigen Soldaten fast vernichtet worden war. Nun werden sie von einem Relikt des Kalten Krieges aufs Neue bedroht, denn Weißrusslands Behörden wollen den Grenzzaun nicht für die Tiere öffnen. Die Riesenbäume des Urwalds unterscheiden sich nicht von denen in Polen; die gleichen Butterblumen, Flechten und gewaltigen Roteichenblätter; dieselben kreisenden Seeadler, die der Stacheldrahtzaun weit unten nicht kümmert. Tatsächlich expandiert der Wald zu beiden Seiten der Grenze, da die Landbevölkerung ihre schrumpfenden Dörfer verlässt und in die Städte zieht. In diesem feuchten Klima erobern Birken und Espen rasch die brachliegenden Kartoffeläcker; in nur zwei Jahrzehnten weichen die landwirtschaftlichen Nutzflächen dem Wald. Unter dem Blätterdach der ersten Bäume regenerieren sich Eichen, Ahorn, Linden, Ulmen und Fichten. Fünfhundert Jahre ohne den Menschen und ein echter Wald könnte neu erstehen.
2 Vom Untergang unserer Häuser
An dem Tag, an dem die Menschheit verschwindet, beginnt die Natur augenblicklich mit dem Hausputz. Sie putzt unsere Häuser vom Antlitz der Erde. Alle werden sie verschwinden.
Wenn Sie ein Haus besitzen, wissen Sie längst, dass das auch bei Ihrem Heim nur eine Frage der Zeit ist. Auch wenn Sie es sich nicht eingestehen, hat die unerbittliche Erosion bereits eingesetzt, angefangen bei Ihren Ersparnissen. Als Sie das Haus kauften, hat niemand erwähnt, was Sie darüber hinaus würden ausgeben müssen, um zu verhindern, dass die Natur es sich lange vor der Bank zurückholt.
Selbst wenn Sie in einer Siedlung leben, wo schwere Maschinen die Landschaft mit roher Gewalt ihrem Willen unterwarfen, wo die wildwuchernde natürliche Pflanzenwelt durch gefügige Rasenflächen und gesichtslose Bäumchen ersetzt und Feuchtgebiete einfach zubetoniert wurden – selbst dann wird Ihnen klar sein, dass die Natur nicht kleinzukriegen ist. Sie können Ihr bestens geheiztes Zuhause noch so gut gegen Wettereinflüsse isolieren, unsichtbare Sporen dringen trotzdem ein und machen sich irgendwann als Schimmelpilzbefall bemerkbar: Erschreckend, wenn Sie ihn entdecken, schlimmer noch, wenn nicht, weil er sich hinter der gestrichenen Wand verbirgt, wo er Rigipsplatten anfrisst, Stützpfeiler aufweicht und Fußbodenbretter zerstört. Oder Sie
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