Die Welt ohne uns
gesprochen, unter ihnen auch Ana Maria Santi. Der Wald, wie sie ihn einst gekannt hatten, war weitgehend vernichtet: Von ihren Unterdrückern, den Kichwas, hatten sie gelernt, Bäume mit Macheten zu fällen und die Stümpfe zu verbrennen, um Maniok anzubauen. Nach jeder Ernte müssen die Felder mehrere Jahre brachliegen. So weit das Auge reicht, wird dann das hohe Blätterdach der Maniokpflanzen von dürrem Zweitwuchs in Gestalt von Lorbeer, Magnolien und Palmen verdrängt. Maniok war jetzt ihre wichtigste Erntefrucht und wurde den ganzen Tag in Form von chicha konsumiert. Aber die Zápara hatten überlebt und waren im 21. Jahrhundert angekommen. Zwar jagten sie noch, doch wanderten sie oft tagelang, ohne Tapire oder auch nur eine Wachtel zu finden. In ihrer Not erlegten sie Klammeraffen, deren Fleisch einst tabu gewesen war.
Abermals stieß Ana Maria die Schale fort, die ihr von ihren Enkelinnen angeboten wurde, die Schale mit schokoladenfarbenem Fleisch, aus der eine winzige, daumenlose Pfote herausragte. Mit ihrem knotigen Kinn wies sie auf das verschmähte Affenfleisch.
»Wenn wir jetzt so weit sind, dass wir unsere Ahnen essen«, fragte sie, »was bleibt uns dann noch?«
Auch uns beschleicht in jüngerer Zeit eine Ahnung von dem, was Ana Maria bewegt.
Vor noch nicht allzu langer Zeit sind die Menschen nur knapp der atomaren Katastrophe entgangen. Mit etwas Glück wird es uns vielleicht gelingen, diese und andere Gefahren der Massenvernichtung auch in Zukunft zu vermeiden. Heute müssen wir uns jedoch fragen, ob wir den Planeten – uns eingeschlossen – nicht unbeabsichtigt vergiftet oder überhitzt haben. Wasser und Boden sind belastet und verschwendet, sodass es von beidem weit weniger gibt als früher. Tausende von Arten haben wir ausgelöscht, die wahrscheinlich auf immer verloren sind. Unser ganzer Planet könnte eines Tages, so warnen die Experten, einem verwahrlosten Brachland ähneln, wo neben dem Unkraut nur noch Ratten und Krähen gedeihen. Wann ist, wenn es zu dieser Entwicklung kommen sollte, der Punkt erreicht, wo auch wir trotz unserer viel gerühmten Intelligenz nicht mehr zu den überlebenden Arten zählen?
Wir wissen es nicht. Jede Hypothese leidet unter unserem hartnäckigen Widerstand, den schlimmsten Fall ins Auge zu fassen. Unser natürlicher Selbsterhaltungstrieb lässt uns die Vorboten von Katastrophen leugnen, verdrängen und ignorieren, falls sie uns nicht vor Angst lähmen.
Wenn uns dieser Trieb so täuscht, dass wir warten, bis es zu spät ist, sieht es schlecht für uns aus. Stärkt er unseren Widerstandswillen angesichts sich mehrender Zeichen, wäre es von Vorteil. Mehr als einmal hat eine töricht scheinende Hoffnung in schier aussichtsloser Lage kreative Kräfte entfesselt und die Betroffenen vor dem Verderben gerettet.
Lassen wir uns also auf ein kreatives Experiment ein: Nehmen wir an, der schlimmste Fall sei eingetreten. Die Vernichtung der Menschheit wäre eine vollendete Tatsache. Kein atomares Desaster, kein Asteroideneinschlag oder irgendein anderes Ereignis, das katastrophal genug ist, um uns Menschen auszulöschen und das, was bleibt, vollkommen zu verändern. Auch kein düsteres Umweltszenario, das uns – und mit uns viele andere Arten – in den schleichenden Untergang treibt.
Vielmehr das Bild einer Welt, in der wir alle plötzlich verschwinden. Morgen zum Beispiel.
Unwahrscheinlich vielleicht, aber in einem Gedankenexperiment durchaus möglich.
Schauen Sie sich die Welt von heute an. Ihr Haus, Ihre Stadt. Die Umgebung, das Pflaster auf dem Sie stehen, der Erdboden darunter. Lassen Sie alles, wie es ist, aber nehmen Sie die Menschen aus diesem Bild heraus. Löschen Sie uns einfach aus. Was bleibt? Wie würde die Natur reagieren, wenn sie plötzlich vom Einfluss der Menschen befreit wäre? Wie schnell würde oder könnte sie in den Zustand zurückkehren, in dem sie sich befand, bevor wir unsere Maschinen in Gang setzten?
Wie lange würde es dauern, bis die Erde wieder so aussähe wie sie war, bevor Adam und Eva auf der Bildfläche erschienen? Könnte die Natur jemals all unsere Spuren auslöschen? Wie würde sie unsere riesigen Städte und Straßen verschwinden lassen? Oder gibt es Dinge, die sich nie wieder rückgängig machen lassen?
Was ist mit unseren erhabensten Schöpfungen – unserer Architektur, unserer Kunst, den Manifestationen unseres Geistes? Sind sie wirklich zeitlos, zumindest zeitlos genug, um fortzubestehen, bis sich die Sonne ausdehnt
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