Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
einer besseren, einer gerechten und friedlichen Welt. Und nur der Wahn, nicht das Wissen macht glücklich. Darum gingen, darum jubelten damals die Opfer trunken der Schlachtbank entgegen, mit Blumen bekränzt und mit Eichenlaub auf den Helmen, und die Straßen dröhnten und leuchteten wie bei einem Fest.
Daß ich selbst diesem plötzlichen Rausch des Patriotismus nicht erlag, hatte ich keineswegs einer besonderen Nüchternheit oder Klarsichtigkeit zu verdanken, sondern der bisherigen Form meines Lebens. Ich war zwei Tage vorher noch im ›Feindesland‹ gewesen und hatte mich somit überzeugen können, daß die großen Massen in Belgien genauso friedlich und ahnungslos gewesen wie unsere eigenen Leute. Außerdem hatte ich zu lange kosmopolitisch gelebt, um über Nacht eine Welt plötzlich hassen zu können, die ebenso die meine war wie mein Vaterland. Ich hatte seit Jahren der Politik mißtraut und gerade in den letzten Jahren in unzähligen Gesprächen mit meinen französischen, meinen italienischen Freunden den Widersinn einer kriegerischen Möglichkeit erörtert. So war ich gewissermaßen geimpft mit Mißtrauen gegen die Infektion patriotischer Begeisterung, und vorbereitet wie ich war gegen diesen Fieberanfall der ersten Stunde, blieb ich entschlossen, meine Überzeugung von der notwendigen Einheit Europas nicht erschüttern zu lassen durch einen von ungeschickten Diplomaten und brutalen Munitionsindustriellen herbeigeführten Bruderkampf.
Innerlich war ich demzufolge vom ersten Augenblick an als Weltbürger gesichert; schwer war es, die richtige Haltung als Staatsbürger zu finden. Obwohl erst zwei- unddreißig Jahre alt, hatte ich vorläufig keinerlei militärische Pflichten, da ich bei allen Assentierungen als untauglich erklärt worden war, worüber ich schon seinerzeit herzlich froh gewesen. Erstens ersparte mir diese Zurückstellung ein mit stupidem Kommißdienst vergeudetes Jahr, außerdem schien es mir ein verbrecherischer Anachronismus, im zwanzigsten Jahrhundert eingeübt zu werden in der Handhabung von Mordwerkzeugen. Die richtige Haltung für einen Mann meiner Überzeugung wäre gewesen, in einem Kriege mich als ›conscientious objector‹ zu erklären, was in Österreich (im Gegensatz zu England) mit den denkbar schwersten Strafen bedroht war und eine wirkliche Märtyrerfestigkeit der Seele forderte. Nun liegt – ich schäme mich nicht, diesen Defekt offen einzugestehen – meiner Natur das Heldische nicht. Meine natürliche Haltung in allen gefährlichen Situationen ist immer die ausweichende gewesen, und nicht nur bei diesem einen Anlaß mußte ich vielleicht mit Recht den Anwurf der Unentschiedenheit auf mich nehmen, den man meinem verehrten Meister in einem fremden Jahrhundert, Erasmus von Rotterdam, so häufig gemacht. Anderseits war es wieder unerträglich, in einer solchen Zeit als verhältnismäßig junger Mensch abzuwarten, bis man ihn herausscharrte aus seinem Dunkel und an irgendeine Stelle warf, an die er nicht gehörte. So hielt ich Umschau nach einer Tätigkeit, wo ich immerhin etwas leisten konnte, ohne hetzerisch tätig zu sein, und der Umstand, daß einer meiner Freunde, ein höherer Offizier, im Kriegsarchiv war, ermöglichte mir, dort eingestellt zu werden. Ich hatte Bibliotheksdienst zu tun, wofür ich durch meine Sprachkenntnisse nützlich war, oder stilistisch manche der für die Öffentlichkeit bestimmten Mitteilungen zu verbessern –, gewiß keine ruhmreiche Tätigkeit, wie ich willig eingestehe, aber doch eine, die mir persönlich passender erschien, als einem russischen Bauern ein Bajonett in die Gedärme zu stoßen. Jedoch das Entscheidende für mich war, daß mir Zeit blieb nach diesem nicht sehr anstrengenden Dienst für jenen Dienst, der mir der wichtigste in diesem Kriege war: der Dienst an der künftigen Verständigung.
Schwieriger als die amtliche erwies sich meine Stellung innerhalb meines Freundeskreises. Wenig europäisch geschult, ganz im deutschen Gesichtskreis lebend, meinten die meisten unserer Dichter ihr Teil am besten zu tun, indem sie die Begeisterung der Massen stärkten und die angebliche Schönheit des Krieges mit dichterischem Appell oder wissenschaftlichen Ideologien unterbauten. Fast alle deutschen Dichter, Hauptmann und Dehmel voran, glaubten sich verpflichtet, wie in urgermanischen Zeiten als Barden die vorrückenden Kämpfer mit Liedern und Runen zur Sterbebegeisterung anzufeuern. Schockweise regneten Gedichte, die Krieg auf Sieg, Not
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