Geschichte Hessens
Einleitung
Mit einem Gebietsumfang von 21.115 Quadratkilometern und einer Bevölkerungszahl von 6,1 Millionen Einwohnern zählt Hessen heute zu den mittelgroßen Territorien der Bundesrepublik Deutschland. Anders als etwa Bayern oder Sachsen kann das Land allerdings nicht auf eine jahrhundertealte und im wesentlichen ungebrochene gesamtstaatliche Überlieferung zurückblicken. Seinen gegenwärtigen Gebietsumfang hat es erst vor 60 Jahren erhalten – mit der Gründung des Landes «Groß-Hessen» durch die amerikanische Besatzungsmacht am 19. September 1945. Zuvor war der Raum zwischen Werra und Neckar, Lahn und Diemel, Main und Weser in verwaltungsmäßig voneinander getrennte Territorien eingeteilt – in Kurhessen und Hessen-Darmstadt, Nassau, Waldeck und Frankfurt am Main, die wiederum jedes für sich auf eine lange historische Entwicklung von relativer Eigenständigkeit zurückblicken konnten. Erbteilungen und dynastische Sonderinteressen, konfessioneller Zwist, kriegerische Auseinandersetzungen sowie die Interventionen und Begehrlichkeiten fremder Mächte haben dazu geführt, daß es im hessischen Raum – ohnehin eine Durchgangsregion – über die Jahrhunderte hinweg nicht zu einer einheitlichen Staatsbildung gekommen ist. Dieser Tatsache trägt die hier präsentierte «Geschichte Hessens» insofern Rechnung, als sie danach strebt, die territoriale Entwicklung und individuelle Prägung jener Gebiete im Blick zu behalten, aus denen sich nach 1945 das heutige Bundesland Hessen formierte.
Andererseits gab es, auch wenn der hessische Raum jahrhundertelang in eine Vielzahl kleinerer Staaten zerteilt gewesen ist, eine sehr bewußt erlebte «gemeinsame» Geschichte Hessens. Das galt nicht nur für die Zeit des Hochmittelalters, in der die Region zu den Kerngebieten des Reiches zählte, sondern auch für die Epoche der Herausbildung landesfürstlicher Territorialherrschaftenwährend der Frühen Neuzeit, die das Territorium der Landgrafschaft Hessen als ungeteilte geographisch-politische Einheit sah und, zumindest ansatzweise, für die nassauischen Herrschaften eine durch den Calvinismus vorgegebene vergleichbare Entwicklungsrichtung erkennen ließ. In den darauffolgenden Jahrhunderten der «getrennten» Entwicklung, in denen sich vor allem die Kasseler und die Darmstädter Linie des Hauses Hessen voneinander fort bewegten, blieb gleichwohl ein veritabler Fundus gesamthessischer Traditionen erhalten, nicht zuletzt gespeist von kulturellen, konfessionellen und landsmannschaftlichen Identitäten. Insofern vermag auch eine Betrachterperspektive, welche die neuere Geschichte der einzelnen hessischen Territorien als eine Art Vorgeschichte des heutigen Bundeslandes Hessen wertet, durchaus eine gewisse Berechtigung für sich zu beanspruchen.
In diesem Spannungsfeld von «Einheit» und «Vielfalt», von gesamthessischen Ansprüchen und regionalen Bezugsfeldern bewegt sich der Argumentationsrahmen des hier vorgelegten Buches. Es skizziert in groben Umrissen Ereignisse, Gestalten und Probleme der politischen Geschichte Hessens – mit Schwerpunktsetzungen im dynastie-, verfassungs- und verwaltungsgeschichtlichen Bereich und unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung parlamentarisch-demokratischer Formen politischer Partizipation im 19. und 20. Jahrhundert. Daneben stehen Aspekte der hessischen Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte, der Entwicklung von Religion und Konfession, von Wirtschaft und Gesellschaft und, nicht zuletzt, des Verhältnisses Hessens zu seinen Nachbarn in Deutschland und Europa im Mittelpunkt der Darlegungen.
Auf diese Weise entsteht das facettenreiche Bild einer deutschen Geschichtslandschaft, deren wechselvolle Geschehensvielfalt mit dem Reichtum landesspezifischer Eigenarten korrespondiert und von zahllosen prominenten Beobachtern immer wieder beschrieben worden ist. «Hessen», so urteilte das gebürtige Hanauer Landeskind Jacob Grimm 1812 im Blick auf seine damalige Kasseler Wirkungsstätte, «ist ein bergichtes, von großen Heerstraßen abseits liegendes und zunächst mit dem Ackerbaubeschäftigtes Land. … Ein gewisser Ernst, eine gesunde, tüchtige und tapfere Gesinnung, …, die große und schöne Gestalt der Männer in den Gegenden, wo der eigentliche Sitz der Chatten war, haben sich auf die Art erhalten. … Dann empfindet man auch, daß die zwar rauheren aber oft ausgezeichnet herrlichen Gegenden, wie eine gewisse Strenge und Dürftigkeit der Lebensweise, zu dem ganzen
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