Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Gesetz erhoben, kaum mehr ernstlich getadelt würde, konnte damals noch die Welt von einem bis zum anderen Ende erregen. Die Erschießung der Nurse Cavell, die Torpedierung der ›Lusitania‹ wurden dank des Ausbruchs universaler moralischer Entrüstung für Deutschland verhängnisvoller als eine verlorene Schlacht. Es war für den Dichter, den französischen Schriftsteller also keineswegs aussichtslos, zu sprechen in jener Zeit, da das Ohr und die Seele noch nicht von den unablässig schwatzenden Wellen des Radios überströmt waren; im Gegenteil: die spontane Manifestation eines großen Dichters übte tausendmal mehr Wirkung als alle offiziellen Reden der Staatsmänner, von denen man wußte, daß sie taktisch, politisch auf die Stunde eingestellt waren und bestenfalls nur die halbe Wahrheit enthielten. Auch in diesem Sinne des Vertrauens auf den Dichter als den besten Bürgen reiner Gesinnung wohnte noch unendlich mehr Gläubigkeit jener – später so sehr enttäuschten – Generation inne. Da sie aber um diese Autorität der Dichter wußten, suchten ihrerseits die Militärs, die Amtsstellen alle Männer von moralischem, von geistigem Prestige in ihren Aufputschungsdienst zu spannen: sie sollten erklären, beweisen, bestätigen, beschwören, daß alles Unrecht, alles Böse auf der anderen Seite angehäuft sei, alles Recht, alle Wahrheit der eigenen Nation zu eigen. Bei Rolland gelang es ihnen nicht. Er sah seine Aufgabe nicht darin, die haßschwüle, mit allen Aufputschungsmitteln überreizte Atmosphäre noch zu steigern, sondern im Gegenteil, sie zu reinigen.
Wer heute die acht Seiten dieses berühmten Aufsatzes ›Au-dessus de la mêlée‹ wieder liest, vermag seine immense Wirkung wahrscheinlich nicht mehr zu verstehen; alles, was Rolland darin postulierte, meint, wenn mit kühlen, klaren Sinnen gelesen, doch nur selbstverständlichste Selbstverständlichkeit. Aber diese Worte waren in einer Zeit geistiger Massentollheit gesprochen, die heute kaum mehr rekonstruierbar ist. Die französischen Superpatrioten schrien, als dieser Aufsatz erschien, auf, als hätten sie versehentlich ein glühendes Eisen in die Hand bekommen. Über Nacht war Rolland von seinen ältesten Freunden boykottiert, die Buchhändler wagten den ›Jean Christophe‹ nicht mehr in die Auslagen zu stellen, die Militärbehörden, die den Haß brauchten zur Stimulierung der Soldaten, erwogen bereits Maßnahmen gegen ihn, eine Broschüre nach der andern erschien mit der Argumentation: ›Ce qu’on donne pendant la guerre à l’humanité est volé à la patrie.‹ Aber wie immer bewies der Aufschrei, daß der Schlag vollwichtig getroffen hatte. Die Diskussion über die Haltung des geistigen Menschen im Kriege war nicht mehr aufzuhalten, das Problem für jeden einzelnen unvermeidlich gestellt.
Nichts ist mir bei diesen meinen Erinnerungen bedauerlicher, als daß mir die Briefe Rollands aus jenen Jahren nicht zugänglich sind; der Gedanke, sie könnten in dieser neuen Sintflut vernichtet werden oder verlorengehen, lastet wie eine Verantwortung auf mir. Denn so sehr ich sein Werk liebe, halte ich es für möglich, daß man später sie dem Schönsten und Humansten beizählen wird, was sein großes Herz und sein leidenschaftlicher Verstand jemals entäußert haben. Aus der maßlosen Erschütterung einer mitleidenden Seele, aus der ganzen Kraft machtloser Erbitterung geschrieben an einen Freund jenseits der Grenze, also einen offiziellen ›Feind‹, stellen sie die vielleicht eindringlichsten moralischen Dokumente einer Zeit dar, wo Verstehen eine ungeheure Kraftleistung und Treue zur eigenen Gesinnung allein schon einen grandiosen Mut erforderte. Bald kristallisierte sich aus dieser unserer freundschaftlichen Korrespondenz ein positiver Vorschlag: Rolland regte an, man solle versuchen, die wichtigsten geistigen Persönlichkeiten aller Nationen zu einer gemeinsamen Konferenz in der Schweiz einzuladen, um zu einer einheitlichen und würdigeren Haltung zu gelangen und vielleicht sogar einen solidarischen Appell im Sinne der Verständigung an die Welt zu richten. Er wollte von der Schweiz aus übernehmen, die französischen und ausländischen Geistigen zur Teilnahme einzuladen, ich sollte von Österreich unsere und die deutschen Dichter und Gelehrten sondieren, soweit sie sich noch nicht selbst durch eine öffentliche Haßpropaganda kompromittiert hätten. Ich machte mich sofort ans Werk. Der wichtigste, der repräsentativste deutsche Dichter war
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