Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
Vom Netzwerk:
Krieg – brutaler als der Erste – jede Verbindung zwischen den Ländern abriß.
    Dieser Brief war einer der großen Glücksmomente in meinem Leben: wie eine weiße Taube kam er aus der Arche der brüllenden, stampfenden, tobenden Tierheit. Ich fühlte mich nicht mehr allein, sondern endlich wieder gleicher Gesinnung verbunden. Ich empfand mich bestärkt durch Rollands überlegene Seelenstärke. Denn über die Grenzen hinweg wußte ich, wie wunderbar Rolland seine Menschlichkeit bewahrte. Er hatte den einzig richtigen Weg gefunden, den der Dichter in solchen Zeiten persönlich zu nehmen hat: nicht mitzutun an der Zerstörung, am Mord, sondern – nach dem großartigen Beispiel Walt Whitmans, der als Krankenpfleger im Sezessionskriege gedient – tätig zu sein an Werken der Hilfe und der Menschlichkeit. In der Schweiz lebend, durch seine schwankende Gesundheit jedweden Kriegsdienstes enthoben, hatte er sich in Genf, wo er sich bei Kriegsausbruch befand, sofort dem ›Roten Kreuz‹ zur Verfügung gestellt und arbeitete dort in den überfüllten Räumen Tag für Tag an dem wundervollen Werke, dem ich dann später versuchte, in einem Aufsatz ›Das Herz Europas‹ öffentlichen Dank zu sagen. Nach den mörderischen Schlachten der ersten Wochen war jede Verbindung abgerissen; in allen Ländern wußten die Angehörigen nicht, ob ihr Sohn, ihr Bruder, ihr Vater gefallen oder nur vermißt oder gefangen sei, und sie wußten nicht, bei wem sie anfragen sollten, denn vom ›Feinde‹ war keine Auskunft zu erwarten. Da hatte das ›Rote Kreuz‹ die Aufgabe übernommen, inmitten des Grauens und der Grausamkeit den Menschen wenigstens die grimmigste Qual abzunehmen: die folternde Ungewißheit über das Schicksal geliebter Menschen, indem es aus den gegnerischen Ländern den Briefwechsel der Gefangenen nach der Heimat leitete. Freilich, die seit Jahrzehnten vorbereitete Organisation war nicht gefaßt gewesen auf solche Dimensionen und Millionenzahlen; täglich, stündlich mußte die Zahl der freiwilligen Hilfsarbeiter vermehrt werden, denn jede Stunde quälenden Wartens bedeutete für die Angehörigen eine Ewigkeit. Ende Dezember 1914 waren es schon dreißigtausend Briefe, die jeder Tag heranschwemmte, schließlich drängten sich in dem engen Musée Rath in Genf zwölfhundert Menschen zusammen, um die tägliche Post zu bewältigen, zu beantworten. Und mitten unter ihnen arbeitete, statt egoistisch seine eigene Arbeit zu tun, der menschlichste unter den Dichtern: Romain Rolland.
    Aber er hatte auch seine andere Pflicht nicht vergessen, die Pflicht des Künstlers, seine Überzeugung auszusprechen und sei es auch gegen den Widerstand seines Landes und sogar den Unwillen der ganzen kriegführenden Welt. Schon im Herbst 1914, da die meisten Schriftsteller sich in Haß überschrien und gegeneinander geiferten und belferten, hatte er jenes denkwürdige Bekenntnis ›Au-dessus de la mêlée‹ geschrieben, in dem er den geistigen Haß zwischen den Nationen bekämpfte und von dem Künstler Gerechtigkeit und Menschlichkeit selbst mitten im Krieg forderte – diesen Aufsatz, der wie kein anderer jener Zeit die Meinungen erregte und eine ganze Literatur des Dagegen und Dafür hinter sich zog.
    Denn dies unterschied den Ersten Weltkrieg wohltätig vom Zweiten: das Wort hatte damals noch Gewalt. Es war noch nicht zu Tode geritten von der organisierten Lüge, der ›Propaganda‹, die Menschen hörten noch auf das geschriebene Wort, sie warteten darauf. Während 1939 keine einzige Kundgebung eines Dichters weder im Guten noch im Bösen auch nur die mindeste Wirkung zeitigte, während bis heute kein einziges Buch, keine Broschüre, kein Aufsatz, kein Gedicht innerlich die Massen berührte oder gar in ihrem Denken beeinflußte, vermochte 1914 ein vierzehnzeiliges Gedicht wie jener ›Haßgesang‹ Lissauers, eine Manifestation wie jene törichte der ›93 deutschen Intellektuellen‹, und andererseits wieder ein Aufsatz von acht Seiten wie Rollands ›Au-dessus de la mêlée‹, ein Roman wie Barbusses ›Le Feu‹ Ereignis zu werden. Das moralische Weltgewissen war eben noch nicht so übermüdet und ausgelaugt wie heute, es reagierte vehement auf jede offenbare Lüge, auf jede Verletzung des Völkerrechts und der Humanität mit der ganzen Kraft jahrhundertealter Überzeugung. Ein Rechtsbruch wie der Einmarsch Deutschlands in das neutrale Belgien, der heute, seit Hitler die Lüge zur Selbstverständlichkeit und die Antihumanität zum

Weitere Kostenlose Bücher