Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
damals Gerhart Hauptmann. Ich wollte, um ihm Zusage oder Absage leichter zu machen, mich nicht direkt an ihn wenden. So schrieb ich unserem gemeinsamen Freunde Walther Rathenau, er möge Hauptmann vertraulich anfragen. Rathenau lehnte ab – ob mit oder ohne Verständigung Hauptmanns, habe ich nie erfahren –, es sei jetzt nicht an der Zeit, einen geistigen Frieden einzuhalten. Damit war eigentlich der Versuch gescheitert, denn Thomas Mann stand damals im anderen Lager und hatte eben in einem Aufsatz über Friedrich den Großen den deutschen Rechtsstandpunkt eingenommen, Rilke, den ich auf unserer Seite wußte, entzog sich aus Prinzip jeder öffentlichen und gemeinsamen Aktion, Dehmel, der ehemalige Sozialist, unterzeichnete seine Briefe mit kindlich-patriotischem Stolz als ›Leutnant Dehmel‹, über Hofmannsthal und Jakob Wassermann hatten mich private Gespräche belehrt, daß auf sie nicht zu zählen war. So war von deutscher Seite nicht viel zu hoffen, und Rolland erging es in Frankreich kaum besser. Es war 1914, 1915 noch zu früh, der Krieg für die Menschen des Hinterlandes noch zu weit. Wir blieben allein.
Allein, aber doch nicht ganz allein. Etwas hatten wir durch unseren Briefwechsel schon gewonnen: eine erste Übersicht der paar Dutzend Menschen, auf die innerlich zu zählen war und die in neutralen oder kriegführenden Ländern gemeinsam mit uns dachten; wir konnten uns gegenseitig aufmerksam machen auf Bücher, Aufsätze, Broschüren hüben und drüben, ein gewisser Kristallisationspunkt war gesichert, an den sich – zögernd zuerst, aber immer stärker durch den immer lastenderen Druck der Zeit – neue Elemente ansetzen konnten. Dieses Gefühl, nicht völlig im Leeren zu stehen, machte mir Mut, öfters Aufsätze zu schreiben, um durch die Antworten und Reaktionen all die Vereinzelten und Verborgenen, die mit uns fühlten, ans Licht zu ziehen. Ich hatte immerhin die großen Zeitungen Deutschlands und Österreichs zur Verfügung und damit einen wichtigen Wirkungskreis, ein prinzipieller Widerstand der Behörden war nicht zu befürchten, da ich nie ins Aktuell-Politische übergriff. Noch war unter der Einwirkung des liberalistischen Geistes der Respekt vor allem Literarischen sehr stark, und wenn ich die Aufsätze überlese, die es mir damals gelang in die breiteste Öffentlichkeit zu schmuggeln, so kann ich den österreichischen Militärbeamten meinen Respekt für ihre Großzügigkeit nicht versagen; ich konnte immerhin mitten im Weltkriege die Begründerin des Pazifismus, Berta von Suttner, begeistert rühmen, die den Krieg als das Verbrechen der Verbrechen brandmarkte, und über Barbusses ›Le Feu‹ in einer österreichischen Zeitung ausführlich berichten. Eine gewisse Technik mußten wir uns freilich zurechtlegen, während wir diese unsere unzeitgemäßen Anschauungen während einer Kriegszeit weiten Kreisen übermittelten. Um das Grauen des Krieges, die Gleichgültigkeit des Hinterlandes darzustellen, war es in Österreich natürlich nötig, das Leiden eines ›französischen‹ Infanteristen in einem Aufsatz über ›Le Feu‹ hervorzuheben, aber Hunderte von Briefen von der österreichischen Front zeigten mir, wie deutlich die Unseren ihr eigenes Schicksal erkannt. Oder wir wählten, um unsere Überzeugungen auszusprechen, das Mittel des scheinbaren gegenseitigen Angriffs. So polemisierte im ›Mercure de France‹ einer meiner französischen Freunde gegen meinen Aufsatz ›Den Freunden im Fremdland‹; aber indem er ihn in der vorgeblichen Polemik bis auf das letzte Wort übersetzt abdruckte, hatte er ihn glücklich nach Frankreich hinübergeschmuggelt, und jeder konnte ihn (was die Absicht war) dort lesen. Auf solche Art gingen Blinklichter, die nichts als Erinnerungszeichen waren, hinüber und herüber. Wie sehr sie von denen, für die sie bestimmt waren, verstanden wurden, zeigte mir später eine kleine Episode. Als Italien im Mai 1915 Österreich, seinem früheren Bundesgenossen, den Krieg erklärte, sprang bei uns eine Haßwelle auf. Alles Italienische wurde beschimpft. Zufällig waren nun die Erinnerungen eines jungen Italieners aus der Zeit des Risorgimento namens Carl Poerio erschienen, der einen Besuch bei Goethe schilderte. Ich schrieb, um inmitten des Haßgeschreis darzutun, daß die Italiener mit unserer Kultur von je die besten Zusammenhänge gehabt hätten, demonstrativ einen Aufsatz ›Ein Italiener bei Goethe‹, und da dieses Buch von Benedetto Croce eingeleitet war,
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