Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Rainer Maria Rilke hatte ich manchmal ein Gespräch innigen Verstehens. Es war gelungen, ihn gleichfalls für unser abgelegenes Kriegsarchiv anzufordern, denn er wäre der unmöglichste Soldat gewesen mit seiner Überzartheit der Nerven, denen Schmutz, Geruch, Lärm wirkliche physische Übelkeit schufen. Immer muß ich unwillkürlich lächeln, wenn ich mich an ihn in Uniform erinnere. Eines Tages klopfte es an meine Tür. Ein Soldat stand ziemlich zaghaft da. Im nächsten Augenblick erschrak ich: Rilke – Rainer Maria Rilke in militärischer Verkleidung! Er sah so rührend ungeschickt aus, beengt von dem Kragen, verstört von dem Gedanken, jedem Offizier die Ehrenbezeigung mit zusammengeklappten Stiefeln erweisen zu müssen. Und da er in seinem magischen Zwang zur Vollendung auch diese nichtigen Formalitäten des Reglements vorbildlich genau ausführen wollte, befand er sich in einem Zustand fortwährender Bestürztheit. »Ich habe«, sagte er mir mit seiner leisen Stimme, »dieses Militärkleid seit der Kadettenschule gehaßt. Ich glaubte, ihm für immer entkommen zu sein. Und jetzt noch einmal, mit fast vierzig Jahren!« Glücklicherweise waren hilfreiche Hände da, ihn zu schützen, und er wurde bald dank einer gütigen medizinischen Untersuchung entlassen. Noch einmal kam er, um Abschied zu nehmen – nun schon wieder im Zivilkleid –, in mein Zimmer, ich möchte fast sagen hereingeweht (so unbeschreiblich lautlos ging er ja immer). Er wollte mir noch danken, weil ich durch Rolland versucht hatte, seine in Paris beschlagnahmte Bibliothek zu retten. Zum erstenmal sah er nicht mehr jung aus, es war, als hätte das Denken an das Grauen ihn erschöpft. »Ins Ausland«, sagte er, »wenn man nur ins Ausland könnte! Krieg ist immer Gefängnis.« Dann ging er. Ich war nun wieder ganz allein.
Nach einigen Wochen übersiedelte ich, entschlossen, dieser gefährlichen Massenpsychose auszuweichen, in einen ländlichen Vorort, um mitten im Kriege meinen persönlichen Krieg zu beginnen: den Kampf gegen den Verrat der Vernunft an die aktuelle Massenleidenschaft.
Der Kampf um die geistige Brüderschaft
An sich half es nichts, sich zurückzuziehen. Die Atmosphäre blieb bedrückend. Und ebendeshalb war ich mir bewußt geworden, daß ein bloß passives Verhalten, das Nicht-Mittun bei diesen wüsten Beschimpfungen des Gegners nicht zureichend sei. Schließlich war man Schriftsteller, man hatte das Wort und damit die Pflicht, seine Überzeugungen auszudrücken, soweit dies in einer Zeit der Zensur möglich war. Ich versuchte es. Ich schrieb einen Aufsatz, betitelt ›An die Freunde im Fremdland‹, wo ich in gerader und schroffer Abweichung von den Haßfanfaren der andern das Bekenntnis aussprach, allen Freunden im Ausland, möge auch jetzt eine Verbindung unmöglich sein, treu zu bleiben, um mit ihnen bei erster Gelegenheit wieder gemeinsam am Aufbau einer europäischen Kultur zu arbeiten. Ich sandte ihn an die gelesenste deutsche Zeitung. Zu meiner Überraschung zögerte das ›Berliner Tageblatt‹ nicht, ihn unverstümmelt abzudrucken. Nur ein einziger Satz – ›wem auch immer der Sieg zufallen möge‹ – fiel der Zensur zum Opfer, weil auch der leiseste Zweifel daran, daß Deutschland als selbstverständlicher Sieger aus diesem Weltkrieg hervorgehen werde, damals nicht gestattet war. Aber auch ohne diese Einschränkung trug mir der Aufsatz einige entrüstete Briefe von Überpatrioten ein, sie verstünden nicht, wie man in einer solchen Stunde noch mit diesen schurkischen Gegnern Gemeinschaft haben könne. Das kränkte mich nicht sehr. Ich hatte zeitlebens nie die Absicht gehabt, andere Leute zu meiner Überzeugung zu bekehren. Es war mir genug, sie bekunden, und zwar sichtbar bekunden zu dürfen.
Vierzehn Tage später, ich hatte jenen Aufsatz beinahe schon vergessen, fand ich, mit Schweizer Marke versehen und mit dem Zensurstempel geschmückt, einen Brief, den ich schon an den vertrauten Schriftzügen als von der Hand Romain Rollands erkannte. Er mußte den Aufsatz gelesen haben, denn er schrieb: »Non, je ne quitterai jamais mes amis.« Ich verstand sofort, daß die wenigen Zeilen einen Versuch machen wollten, festzustellen, ob es möglich sei, während des Krieges mit einem österreichischen Freunde in briefliche Verbindung zu treten. Ich antwortete ihm sofort. Wir schrieben einander von nun ab regelmäßig, und dieser Briefwechsel hat sich dann mehr als fünfundzwanzig Jahre fortgesetzt, bis der Zweite
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