Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
nutzte ich den Anlaß, um Croce einige Worte höchsten Respekts zu widmen. Bewundernde Worte für einen Italiener bedeuteten in Österreich zu einer Zeit, da man keinem Dichter oder Gelehrten eines Feindeslandes eine Anerkennung zollen sollte, selbstverständlich eine deutliche Demonstration, und sie wurde bis über die Grenzen hinaus verstanden. Croce, der damals [2] in Italien Minister war, erzählte mir später einmal, wie ein Angestellter des Ministeriums, der selbst nicht Deutsch lesen konnte, ihm etwas bestürzt mitteilte, in dem Hauptblatte des Kriegsgegners stehe etwas gegen ihn (denn er konnte sich eine Erwähnung nicht anders als im Sinne der Gegnerschaft erdenken). Croce ließ sich die ›Neue Freie Presse‹ kommen und war zuerst erstaunt und dann im besten Sinne amüsiert, statt dessen eine Reverenz zu finden.
Ich denke nun durchaus nicht daran, diese kleinen isolierten Versuche zu überschätzen. Sie haben selbstverständlich auf den Gang der Ereignisse nicht die geringste Wirkung geübt. Aber sie haben uns selbst – und manchen unbekannten Lesern – geholfen. Sie haben die gräßliche Isoliertheit, die seelische Verzweiflung gemildert, in der ein wirklich menschlich fühlender Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts sich befand – und heute nach fünfundzwanzig Jahren sich wieder befindet, ebenso machtlos gegen das Übermächtige und, ich fürchte es, sogar noch mehr. Ich war mir schon damals voll bewußt, daß ich mit diesen kleinen Protesten und Geschicklichkeiten nicht die eigentliche Last von mir abzuwälzen vermochte; langsam begann sich in mir der Plan eines Werks zu formen, in dem ich nicht nur Einzelnes aussagen könnte, sondern meine ganze Einstellung zu Zeit und Volk, zu Katastrophe und Krieg.
Um aber den Krieg in einer dichterischen Synthese darstellen zu können, fehlte mir eigentlich das Wichtigste: ich hatte ihn nicht gesehen. Ich saß jetzt fast ein Jahr festgeankert in diesem Büro, und in einer unsichtbaren Ferne ging das ›Eigentliche‹, das Wirkliche, das Grausige des Krieges vor sich. Gelegenheit, an die Front zu fahren, war mir mehrmals geboten worden, dreimal hatten mich große Zeitungen ersucht, als ihr Berichterstatter zur Armee zu gehen. Aber jede Art Schilderung hätte die Verpflichtung mit sich gebracht, den Krieg in einem ausschließlich positiven und patriotischen Sinne darzustellen, und ich hatte mir geschworen – ein Eid, den ich auch 1940 gehalten habe –, niemals ein Wort zu schreiben, das den Krieg bejahte oder eine andere Nation herabsetzte. Nun ergab sich zufällig eine Gelegenheit. Die große österreichisch-deutsche Offensive hatte im Frühjahr 1915 bei Tarnow die russische Linie durchbrochen und Galizien und Polen in einem einzigen konzentrischen Vorstoß erobert. Das Kriegsarchiv wollte nun für seine Bibliothek die Originale all der russischen Proklamationen und Anschläge im besetzten österreichischen Gebiet sammeln, ehe sie heruntergerissen oder sonst vernichtet wurden. Der Oberst, der meine Sammlertechnik zufällig kannte, fragte mich an, ob ich das besorgen wollte; ich griff selbstverständlich sofort zu, und mir wurde ein Passepartout ausgestellt, so daß ich, ohne von einer besonderen Behörde abhängig zu sein und ohne irgendeinem Amt oder Vorgesetzten direkt zu unterstehen, mit jedem Militärzug reisen und mich frei bewegen konnte, wohin ich wollte, was dann zu den sonderbarsten Zwischenfällen führte: ich war nämlich nicht Offizier, sondern nur Titularfeldwebel und trug eine Uniform ohne besondere Abzeichen. Wenn ich mein geheimnisvolles Dokument vorzeigte, erweckte dies einen besonderen Respekt, denn die Offiziere an der Front und die Beamten vermuteten, daß ich irgendein verkleideter Generalstabsoffizier sein müsse oder sonst einen mysteriösen Auftrag habe. Da ich auch die Offiziersmessen vermied und nur in Hotels abstieg, gewann ich überdies den Vorzug, außerhalb der großen Maschinerie zu stehen und ohne jede ›Führung‹ sehen zu können, was ich sehen wollte.
Der eigentliche Auftrag, die Proklamationen zu sammeln, beschwerte mich nicht sehr. Jedesmal, wenn ich in eine jener galizischen Städte kam, nach Tarnow, nach Drohobycz, nach Lemberg, standen dort am Bahnhof einige Juden, sogenannte ›Faktoren‹, deren Beruf es war, alles zu besorgen, was immer man haben wollte; es genügte, daß ich einem dieser Universalpraktiker sagte, ich wünschte die Proklamationen und Anschläge der russischen Okkupation, und der Faktor
Weitere Kostenlose Bücher