Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
neben dem ›Erasmus‹, in dem ich mich 1934 in Hitlers Tagen aus einer ähnlichen Krise emporrang. Von dem Augenblicke, da ich versuchte, sie zu gestalten, litt ich nicht mehr so schwer an der Tragödie der Zeit.
An einen sichtbaren Erfolg dieses Werkes hatte ich nicht einen Augenblick geglaubt. Durch die Begegnung so vieler Probleme, des prophetischen, des pazifistischen, des jüdischen, durch die choralische Formung der Schlußszenen, die aufsteigen in einen Hymnus des Besiegten an sein Schicksal, war der Umfang dieser Dichtung dermaßen über den normalen eines Dramas hinausgewachsen, daß eine richtige Aufführung eigentlich zwei oder drei Theaterabende erfordert hätte. Und dann – wie sollte ein Stück auf die deutsche Bühne kommen, das die Niederlage ankündigte und sie sogar rühmte, indes täglich die Zeitungen schmetterten ›Siegen oder Untergehen!‹ Ein Wunder mußte ich es schon nennen, wenn das Buch gedruckt werden durfte, aber selbst in dem schlimmsten Falle, daß dies nicht gelingen sollte, hatte es wenigstens mir selbst geholfen über die schwerste Zeit. Ich hatte alles im dichterischen Dialog gesagt, was ich im Gespräch mit den Menschen um mich verschweigen mußte. Ich hatte die Last, die mir auf der Seele lag, weggeschleudert und war mir selbst zurückgegeben; in eben der Stunde, da alles in mir ein ›Nein‹ war gegen die Zeit, hatte ich das ›Ja‹ zu mir selbst gefunden.
Im Herzen Europas
Als zu Ostern 1917 meine Tragödie ›Jeremias‹ in Buchform erschien, erlebte ich eine Überraschung. Ich hatte sie innerlich in erbittertstem Widerstand gegen die Zeit geschrieben und mußte darum erbitterten Widerstand erwarten. Aber genau das Gegenteil ereignete sich. Von dem Buche wurden zwanzigtausend Exemplare sofort verkauft, eine für ein Buchdrama phantastische Zahl; nicht nur die Freunde wie Romain Rolland setzten sich öffentlich dafür ein, sondern auch jene, die vordem eher auf der anderen Seite gestanden wie Rathenau und Richard Dehmel. Direktoren von Theatern, denen das Drama gar nicht eingereicht worden war – eine deutsche Aufführung während des Krieges blieb doch undenkbar –, schrieben mir und baten mich, ihnen die Uraufführung zu reservieren für die Friedenszeit; selbst die Opposition der Kriegerischen zeigte sich höflich und respektvoll. Alles hatte ich erwartet, nur nicht dies.
Was war geschehen? Nichts anderes, als daß der Krieg eben schon zweieinhalb Jahre andauerte: die Zeit hatte ihr Werk grausamer Ernüchterung getan. Nach dem furchtbaren Aderlaß auf den Schlachtfeldern begann das Fieber zu weichen. Die Menschen sahen mit kälteren, härteren Augen dem Krieg ins Gesicht als in den ersten Monaten der Begeisterung. Das Gefühl der Solidarität begann sich zu lockern, denn von der großen ›sittlichen Reinigung‹, die von den Philosophen und Dichtern überschwenglich verkündigt worden war, nahm man nicht mehr das geringste wahr. Ein tiefer Riß ging durch das ganze Volk; das Land war gleichsam in zwei verschiedene Welten zerfallen, vorne die der Soldaten, die kämpften und das Grauenhafteste an Entbehrung erlitten, rückwärts die der Zuhausegebliebenen, die sorglos weiterlebten, die Theater bevölkerten und an dem Elend der anderen noch verdienten. Front und Hinterland profilierten sich immer schärfer gegeneinander. Durch die Türen der Ämter hatte sich in hundert Masken ein wüstes Protektionswesen eingeschlichen; man wußte, daß Leute durch Geld oder gute Konnexionen einträgliche Lieferungen bekamen, während schon halbzerschossene Bauern oder Arbeiter immer wieder in die Schützengräben getrieben wurden. Jeder begann darum sich rücksichtslos zu helfen, soweit er nur konnte. Die notwendigen Gebrauchsgegenstände wurden dank eines schamlosen Zwischenhandels täglich teurer, die Lebensmittel kärglicher, und über dem grauen Sumpf des Massenelends phosphoreszierte wie ein Irrlicht der aufreizende Luxus der Kriegsgewinnler. Ein erbittertes Mißtrauen begann allmählich die Bevölkerung zu erfassen – Mißtrauen gegen das Geld, das immer mehr an Wert verlor, Mißtrauen gegen die Generäle, die Offiziere, die Diplomaten, Mißtrauen gegen jede Verlautbarung des Staats und Generalstabs, Mißtrauen gegen die Zeitungen und ihre Nachrichten, Mißtrauen gegen den Krieg selbst und seine Notwendigkeit. Es war also keineswegs die dichterische Leistung meines Buches, die ihm den überraschenden Erfolg gab; ich hatte nur ausgesprochen, was die andern offen nicht
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