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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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erzwingen, aber sie verabscheuten dies ›Entweder-Oder‹, das ihnen unmöglich war. Sie wollten, wie wir alle, Deutschland und Frankreich als Brüder, Verständigung statt Befeindung, und darum litten sie um beide und für beide.
    Und rundherum noch die ratlose Schar der Halbverbundenen, der Gemischten, englische Frauen, die deutsche Offiziere geheiratet, französische Mütter österreichischer Diplomaten, Familien, wo der eine Sohn hüben diente und der andere drüben, wo die Eltern da und dort auf Briefe warteten, das Wenige hier konfisziert, die Position dort verloren war; alle diese Zerspaltenen hatten sich in die Schweiz gerettet, um der Verdächtigung zu entgehen, die sie in der alten und in der neuen Heimat gleicherweise verfolgte. In Furcht, die einen zu kompromittieren und die andern, vermieden sie, in jedweder Sprache zu sprechen, und schlichen wie Schatten herum, zerstörte, zerbrochene Existenzen. Je europäischer ein Mensch in Europa gelebt, um so härter wurde er von der Faust gezüchtigt, die Europa zerschlug.

    Inzwischen war die Aufführung des ›Jeremias‹ herangerückt. Sie wurde ein schöner Erfolg, und daß die ›Frankfurter Zeitung‹ denunzierend nach Deutschland berichtete, es hätten der amerikanische Gesandte und einige prominente alliierte Persönlichkeiten ihr beigewohnt, beunruhigte mich nicht sehr. Wir spürten, daß der Krieg, nun in seinem dritten Jahr, innerlich immer schwächer wurde und Widerstand gegen seine ausschließlich von Ludendorff erzwungene Fortführung nicht mehr so gefährlich war wie in der ersten Sündenzeit seiner Glorie. Der Herbst 1918 mußte die endgültige Entscheidung herbeiführen. Aber ich wollte diese Zeit des Wartens nicht länger in Zürich verbringen. Denn ich hatte allmählich wachere und wachsamere Augen bekommen. Im ersten Enthusiasmus meiner Ankunft hatte ich vermeint, unter all diesen Pazifisten und Antimilitaristen wirkliche Gesinnungsgenossen zu finden, redlich entschlossene Kämpfer für eine europäische Verständigung. Bald wurde ich gewahr, daß unter denen, die sich als Flüchtlinge aufspielten und die sich als Märtyrer heroischer Überzeugung gebärdeten, einige dunkle Gestalten sich eingeschmuggelt, die im Dienst des deutschen Nachrichtenbüros standen und bezahlt waren, jeden auszuhorchen und zu überwachen. Die ruhige, solide Schweiz erwies sich, wie jeder aus eigener Erfahrung bald feststellen konnte, unterhöhlt von der Maulwurfsarbeit geheimer Agenten aus beiden Lagern. Das Stubenmädchen, das den Papierkorb ausräumte, die Telephonistin, der Kellner, der bedenklich nahe und langsam servierte, standen im Dienst einer feindlichen Macht, oft sogar ein und derselbe Mann im Dienst von beiden Seiten. Koffer wurden auf geheimnisvolle Weise geöffnet, Löschblätter photographiert, Briefe verschwanden auf dem Weg zu oder von der Post; elegante Frauen lächelten einem in aufdringlicher Weise in den Halls der Hotels zu, sonderbar eifrige Pazifisten, von denen wir nie gehört, meldeten sich plötzlich an und luden ein, Proklamationen zu unterzeichnen oder baten scheinheilig um Adressenmaterial ›verläßlicher‹ Freunde. Ein ›Sozialist‹ bot mir ein verdächtig hohes Honorar für einen Vortrag vor der Arbeiterschaft in La Chaux-de-Fonds, die nichts davon wußte; ständig hieß es auf der Hut sein. Es dauerte nicht sehr lange, bis ich merkte, wie gering die Zahl derjenigen war, die man als absolut verläßlich ansehen konnte, und da ich mich nicht in Politik hineinzerren lassen wollte, schränkte ich meinen Verkehr immer mehr ein. Aber selbst bei den Verläßlichen langweilte mich die Unfruchtbarkeit der ewigen Diskussionen und die eigenwillige Verschachtelung in radikale, liberale, anarchistische, bolschewistische und unpolitische Gruppen; zum erstenmal lernte ich richtig den ewigen Typus des professionellen Revolutionärs beobachten, der sich durch das bloß Oppositionelle seiner Stellung in seiner Unbedeutendheit gesteigert fühlt und an das Dogmatische sich klammert, weil er in sich selber keinen Halt besitzt. In dieser geschwätzigen Wirrnis bleiben, hieß sich verwirren, unsichere Gemeinsamkeiten kultivieren und die eigene Überzeugung in ihrer moralischen Sicherheit gefährden. So zog ich mich zurück. Tatsächlich hat von all diesen Kaffeehauskomplotteuren keiner ein Komplott gewagt, von all den improvisierten Weltpolitikern nicht ein einziger verstanden, Politik zu machen, als sie wirklich not tat. Sobald das Positive begann, der

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