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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Spekulanten, Spione, Propagandisten, die von der einheimischen Bevölkerung um dieser plötzlichen Liebe willen mit sehr berechtigtem Mißtrauen betrachtet wurden … In den Restaurants, den Cafés, in den Straßenbahnen, auf der Straße hörte man alle Sprachen. Überall traf man Bekannte, liebe und unliebe, und geriet, ob man wollte oder nicht, in einen Sturzbach erregter Diskussionen. Denn alle diese Menschen, die das Schicksal hergeschwemmt, waren mit ihrer Existenz an den Ausgang des Krieges gebunden, beauftragt die einen von ihren Regierungen, verfolgt und verfemt die andern, jeder aber abgelöst von seiner eigentlichen Existenz und ins Zufällige geschleudert. Da sie alle kein Heim hatten, suchten sie ununterbrochen kameradschaftliche Geselligkeit, und weil es jenseits ihrer Macht lag, die militärischen und politischen Ereignisse zu beeinflussen, diskutierten sie Tag und Nacht in einer Art geistigen Fiebers, das einen gleichzeitig erregte und ermüdete. Nun konnte man sich wirklich schwer der Lust entziehen, nachdem man zu Hause Monate und Jahre mit versiegelter Lippe gelebt, zu sprechen, es drängte einen, zu schreiben, zu publizieren, seit man zum erstenmal wieder unzensuriert denken und schreiben durfte; jeder einzelne war zu seinem Maximum gespannt, und auch mittlere Naturen – wie ich an Guilbeaux zeigte – interessanter, als sie es vordem gewesen und nachher wieder sein sollten. Von Schriftstellern und Politikern fanden sich solche aller Schattierungen und Sprachen zusammen; Alfred H. Fried, der Träger des Friedensnobelpreises, gab hier seine ›Friedenswarte‹ heraus, Fritz von Unruh, vormals preußischer Offizier, las uns seine Dramen vor, Leonhard Frank schrieb sein aufreizendes ›Der Mensch ist gut‹, Andreas Latzko erregte Sensation mit seinen ›Menschen im Kriege‹, Franz Werfel kam zu einer Vorlesung herüber; ich begegnete Männern aller Nationen in meinem alten ›Hotel Schwerdt‹, wo Casanova und Goethe zu ihrer Zeit schon abgestiegen. Ich sah Russen, die dann in der Revolution auftauchten, und deren richtige Namen ich nie erfuhr, Italiener, katholische Geistliche, intransigente Sozialisten und solche der deutschen Kriegspartei; von den Schweizern stand uns der prachtvolle Pastor Leonhard Ragaz zur Seite und der Dichter Robert Faesi. In der französischen Buchhandlung traf ich meinen Übersetzer Paul Morisse, im Konzertsaal den Dirigenten Oscar Fried – alles war da, alles ging vorbei, man hörte alle Meinungen, die absurdesten und die vernünftigsten, ärgerte und begeisterte sich. Zeitschriften wurden gegründet, Polemiken ausgetragen, Gegensätze berührten oder steigerten sich, Gruppen schlossen sich zusammen oder fielen auseinander; nie mehr ist mir ein vielfarbigeres und leidenschaftlicheres Gemenge von Meinungen und Menschen in so konzentrierter und gleichsam dampfender Form begegnet als in diesen Züricher Tagen oder vielmehr Nächten (denn man diskutierte, bis das Café Bellevue oder das Café Odeon die Lichter auslöschte, und ging dann noch oft einer zum andern in die Wohnung). Keiner sah in dieser bezauberten Welt mehr die Landschaft, die Berge, die Seen und ihren milden Frieden; man lebte in Zeitungen, in Nachrichten und Gerüchten, in Meinungen, in Auseinandersetzungen. Und sonderbar: man lebte geistig den Krieg hier eigentlich intensiver mit als in der kriegführenden Heimat, weil sich das Problem gleichsam objektiviert und vom nationalen Interesse an Sieg oder Niederlage völlig losgelöst hatte. Man sah ihn von keinem politischen Standpunkt mehr, sondern vom europäischen als ein grausames und gewaltiges Geschehnis, das nicht nur ein paar Grenzlinien auf der Landkarte, sondern Form und Zukunft unserer Welt verwandeln sollte.

    Die ergreifendsten unter diesen Menschen waren für mich – als ob mich schon eine Ahnung zukünftigen eigenen Schicksals berührt hätte – die Menschen ohne Heimat oder schlimmer noch: die statt eines Vaterlandes zwei oder drei hatten und innerlich nicht wußten, zu welchem sie gehörten. Da saß meist allein in einer Ecke des Café Odeon ein junger Mann mit einem kleinen braunen Bärtchen, auffallend dicke Brillen vor den scharfen dunklen Augen; man sagte mir, daß es ein sehr begabter englischer Dichter sei. Als ich nach einigen Tagen James Joyce dann kennenlernte, lehnte er schroff jede Zusammengehörigkeit mit England ab. Er sei Ire. Er schreibe zwar in englischer Sprache, aber er denke nicht englisch und wolle nicht englisch

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