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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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selbständig leben. Zum erstenmal meines Wissens im Lauf der Geschichte ergab sich der paradoxe Fall, daß man ein Land zu einer Selbständigkeit zwang, die es selber erbittert ablehnte. Österreich wünschte entweder mit den alten Nachbarstaaten wieder vereinigt zu werden oder mit dem stammesverwandten Deutschland, keinesfalls aber in dieser verstümmelten Form ein erniedrigtes Bettlerdasein zu führen. Die Nachbarstaaten hingegen wollten mit diesem Österreich nicht mehr in wirtschaftlichem Bündnis bleiben, teils weil sie es für zu arm hielten, teils aus Furcht vor einer Wiederkehr der Habsburger; den Anschluß an Deutschland verboten anderseits die Alliierten, um das besiegte Deutschland nicht zu stärken. So wurde dekretiert: Die Republik Deutsch-Österreich muß bestehen bleiben. Einem Lande, das nicht existieren wollte, wurde – Unikum in der Geschichte! – anbefohlen: »Du mußt vorhanden sein!«
    Was mich damals bewog, in der schlimmsten Zeit, die je über ein Land gekommen, freiwillig dorthin zurückzukehren, vermag ich selbst heute kaum mehr zu erklären. Aber wir Menschen der Vorkriegszeit waren trotz allem und allem in einem stärkeren Gefühl von Pflicht aufgewachsen; man glaubte, daß man mehr als je in einer solchen Stunde äußerster Not zu seiner Heimat, zu seiner Familie gehörte. Es schien mir irgendwie feig, dem Tragischen, das sich dort vorbereitete, bequem auszuweichen, und ich fühlte – gerade als Autor des ›Jeremias‹ – die Verantwortung, man müßte eigentlich mithelfen durch sein Wort, die Niederlage zu überwinden. Überflüssig während des Krieges, schien ich mir nun nach der Niederlage an der richtigen Stelle, zumal ich mir durch meinen Widerstand gegen die Kriegsverlängerung eine gewisse moralische Stellung insbesondere bei der Jugend erworben hatte. Und selbst wenn man nichts zu leisten vermochte, blieb wenigstens die Genugtuung, mitzuleiden an dem allgemeinen Leiden, das man vorausgesagt.
    Eine Fahrt nach Österreich erforderte damals Vorbereitungen wie eine Expedition in ein arktisches Land. Man mußte sich ausrüsten mit warmen Kleidern und Wollwäsche, denn man wußte, daß jenseits der Grenze keine Kohle vorhanden war, – und der Winter stand vor der Türe. Man ließ sich die Schuhe sohlen, denn drüben gab es nur Holzsohlen. Man nahm Vorräte und Schokolade mit, soviel die Schweiz verstattete, um nicht zu verhungern, bis die ersten Brot- und Fettkarten einem zugeteilt würden. Man versicherte sein Gepäck, so hoch es nur ging, denn die meisten Gepäckwagen wurden geplündert, und jeder Schuh, jedes Kleidungsstück war unersetzbar; nur als ich zehn Jahre später einmal nach Rußland reiste, habe ich ähnliche Vorbereitungen getroffen. Einen Augenblick stand ich noch unschlüssig in der Grenzstation Buchs, in die ich vor mehr als einem Jahr so beglückt eingefahren, und fragte mich, ob ich nicht doch lieber im letzten Augenblick noch umkehren sollte. Es war, ich fühlte es, eine Entscheidung in meinem Leben. Aber schließlich entschloß ich mich zum Schweren und Schwierigeren. Ich bestieg wieder den Zug.
    Bei meiner Ankunft vor einem Jahre hatte ich an der schweizerischen Grenzstation in Buchs eine aufregende Minute erlebt. Jetzt bei der Rückkehr stand mir eine nicht minder unvergeßliche an der österreichischen in Feldkirch bevor. Schon beim Aussteigen hatte ich eine merkwürdige Unruhe bei den Grenzbeamten und Polizisten wahrgenommen. Sie achteten nicht besonders auf uns und erledigten höchst lässig die Revision: offenbar warteten sie auf etwas Wichtigeres. Endlich kam der Glockenschlag, der das Nahen eines Zuges von der österreichischen Seite ankündigte. Die Polizisten stellten sich auf, alle Beamten eilten aus ihren Verschlägen, ihre Frauen offenbar verständigt, drängten sich auf dem Perron zusammen; insbesondere fiel mir unter den Wartenden eine alte Dame in Schwarz mit ihren beiden Töchtern auf, nach ihrer Haltung und Kleidung vermutlich eine Aristokratin. Sie war sichtlich erregt und fuhr immer wieder mit dem Taschentuch an ihre Augen.
    Langsam, ich möchte fast sagen, majestätisch rollte der Zug heran, ein Zug besonderer Art, nicht die abgenutzten, vom Regen verwaschenen gewöhnlichen Passagierwaggons, sondern schwarze, breite Wagen, ein Salonzug. Die Lokomotive hielt an. Eine fühlbare Bewegung ging durch die Reihen der Wartenden, ich wußte noch immer nicht warum. Da erkannte ich hinter der Spiegelscheibe des Waggons hoch aufgerichtet Kaiser

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