Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
Vom Netzwerk:
Monate keine interessantere, keine unabhängigere Zeitschrift, und wenn sie den Krieg überdauert hätte, wäre sie vielleicht entscheidend für die Beeinflussung der öffentlichen Meinung geworden. Gleichzeitig übernahm Guilbeaux in der Schweiz die Vertretung der radikalen Gruppen in Frankreich, denen Clemenceaus harte Hand das Wort geknebelt. Auf den berühmten Kongressen von Kienthal und Zimmerwald, wo sich die international gebliebenen Sozialisten von den patriotisch gewordenen absonderten, spielte er eine historische Rolle; kein Franzose, nicht einmal jener Hauptmann Sadoul, der in Rußland zu den Bolschewisten übergegangen war, wurde in den Pariser politischen und militärischen Kreisen während des Krieges so gefürchtet und gehaßt wie dies kleine blonde Männchen. Endlich gelang es dem französischen Spionagebüro, ihm ein Bein zu stellen. In einem Hotel in Bern wurden aus dem Zimmer eines deutschen Agenten Löschblätter und Kopien gestohlen, die freilich nicht mehr erwiesen, als daß deutsche Stellen einige Exemplare von ›Demain‹ abonniert hatten – an sich eine unschuldige Tatsache, da diese Exemplare wahrscheinlich bei der deutschen Gründlichkeit für die verschiedenen Bibliotheken und Ämter angefordert wurden. Aber der Vorwand genügte in Paris, um Guilbeaux als einen von Deutschland gekauften Agitator zu bezeichnen und ihm den Prozeß zu machen. Er wurde in contumaciam zum Tode verurteilt – durchaus ungerechterweise, wie ja auch die Tatsache bezeugt, daß dieses Urteil zehn Jahre später in einem Revisionsprozeß aufgehoben wurde. Aber kurz darauf geriet er überdies durch seine Vehemenz und Intransigenz, die allmählich auch für Rolland und uns alle zur Gefahr wurde, mit den Schweizer Behörden in Konflikt, wurde verhaftet und eingesperrt. Erst Lenin, der für ihn eine persönliche Neigung und auch Dankbarkeit für die in schwerster Zeit gewährte Hilfe hatte, rettete ihn, indem er ihn durch einen Federstrich in einen russischen Staatsbürger verwandelte und mit dem zweiten versiegelten Zuge nach Moskau kommen ließ. Nun hätte er eigentlich erst produktive Kräfte entfalten können. Denn in Moskau war ihm, der alle Meriten eines richtigen Revolutionärs hatte, Gefängnis und Verurteilung zum Tode in contumaciam, zum zweitenmal jede Möglichkeit des Wirkens gegeben. Wie in Genf durch Rollands Hilfe, hätte er dank Lenins Vertrauen bei dem Aufbau Rußlands Positives leisten können; anderseits war kaum jemand durch seine mutige Haltung im Kriege so sehr ausersehen, in Frankreich nach dem Kriege in Parlament und Öffentlichkeit eine entscheidende Rolle zu spielen, denn alle radikalen Gruppen sahen in ihm den wirklichen, den tätigen, den mutigen Mann, den geborenen Führer. Aber in Wirklichkeit erwies es sich, daß Guilbeaux nichts weniger als eine Führernatur war, sondern nur, wie so viele Kriegsdichter und Revolutionspolitiker, das Produkt einer flüchtigen Stunde und immer fallen unequilibrierte Naturen nach plötzlichen Steigerungen schließlich in sich zusammen. In Rußland vergeudete Guilbeaux als unheilbarer Polemiker wie seinerzeit in Paris seine Begabung in Zänkereien und Stänkereien und verdarb es sich allmählich auch mit denen, die seine Courage respektiert hatten, mit Lenin zuerst, dann mit Barbusse und Rolland und schließlich mit uns allen. Er endete in der klein gewordenen Zeit, wie er begonnen, mit unbedeutenden Broschüren und belanglosen Streitereien; völlig unbeachtet ist er bald nach seiner Begnadigung in einem Winkel von Paris gestorben. Der Verwegenste und Tapferste im Krieg gegen den Krieg, der, wenn er den Anschwung, den ihm die Zeit gegeben, zu nützen und zu verdienen gewußt hätte, eine der großen Figuren unserer Epoche hätte werden können, ist heute völlig vergessen, und ich bin vielleicht einer der letzten, die sich überhaupt noch seiner mit Dankbarkeit für seine Kriegstat des ›Demain‹ entsinnen.
    Von Genf fuhr ich nach wenigen Tagen nach Zürich zurück, um die Besprechungen wegen der Proben meines Stückes zu beginnen. Ich hatte diese Stadt wegen ihrer schönen Lage am See im Schatten der Berge von je geliebt und nicht minder wegen ihrer vornehmen, ein wenig konservativen Kultur. Aber dank der friedlichen Einbettung der Schweiz inmitten der kämpfenden Staaten war Zürich aus seiner Stille getreten und über Nacht die wichtigste Stadt Europas geworden, ein Treffpunkt aller geistigen Bewegungen, freilich auch aller denkbaren Geschäftemacher,

Weitere Kostenlose Bücher